Es ist ein kühler und bedeckter Samstagmorgen Anfang April. Von außen ist der Laden ziemlich unscheinbar. Im Vorbeigehen übersieht man ihn leicht. Im Untergeschoss der Celler Straße 122 in Braunschweig befindet sich das Tattoostudio At First Sight von Nick Colin Corbett und seiner Frau Carlotta. Drinnen bereitet sich Nick gerade auf die erste Kundin vor und erzählt, wie es zu einem eigenen Studio kam. Von Plänen, die er hat, und denen, die er wieder verworfen hat. Im Winter 2010 kam er nach Deutschland. Heute ist er 35. „I had a friend living in Hamburg and I was bored in New Zealand so I decided to risk coming over and having a bit of an adventure“, berichtet er. Kurz nachdem er in Hamburg ankommt, beginnt er mit dem Tätowieren. Das war 2011. Kurz davor habe er die Kunstschule in Neuseeland verlassen und an einem Portfolio mit Tattoos gearbeitet. „I spent everything I had on a ticket to Germany and knew I had to become good at Tattooing fast or go back home.“
Während er berichtet, wie alles begann, schaut er konzentriert, aber dennoch auf gewisse Art gelassen auf seinen Arbeitsplatz. Gewissenhaft reinigt er die Oberflächen von Liege und Sitzgelegenheit, überzieht sie mit einer schwarzen Folie und bedeckt sie anschließend mit einem entsprechend großen Papiertuch. In der Luft liegt der Geruch von Desinfektionsmittel. All das ist notwendig, um die Hygiene für alle Kund*innen zu bewahren. Trotzdem soll die Zeit im Studio für seine Gäste nicht wie ein Arzttermin wirken, findet Nick. Heute kommt keine weitere Kund*in dazu. Schon der Schritt durch die alte Holztür in den Vorraum lässt ahnen, was folgt. Ein altes Sofa mit dicken Polstern lädt zum Verweilen ein. Warme Beleuchtung und Zimmerpflanzen erzeugen eine nahezu wohnzimmerartige Atmosphäre. Alles ist irgendwie ein bisschen retro. Von den Bildern, die Vorurteile von Tätowierenden und Tätowierten zeichnen, keine Spur. Keine zwielichtige Spelunke. Ganz im Gegenteil. Bevor die beiden ihr Studio einrichten konnten, sei hier ein Nagelstudio gewesen, das mehr oder weniger plötzlich leer stand. Die Pläne seien ganz andere gewesen, erzählen sie. Nick war vorher Resident bei Sorry Mom, einem anderen Tattoostudio in Braunschweig. Seine Frau Carlotta, die aus Hamburg stammt, war dort seine Auszubildende.
Die Pläne, ein eigenes Studio zu eröffnen, hatten sie schon vor Corona. Eigentlich wollten die zwei zurück nach Hamburg, um dort einen Laden zu eröffnen. Die Ausrüstung und Einrichtung dafür ist schon vollständig vorhanden gewesen, lediglich die passende Räumlichkeit fehlte ihnen. Die Pandemie hat das Vorhaben bedeutend erschwert. Die hohen Mieten und die Situation als Freelancer ohne festes Einkommen haben die beiden letztendlich in Braunschweig gehalten, zumindest vorerst. Gegen 12 Uhr betritt die Kundin den Laden. Sie kennt sich aus, trägt bereits eines von Nicks Motiven auf ihrer Haut. Eine Matrjoschka Puppe. Bevor aber das eigentliche Stechen beginnt, zeigt er ihr den Entwurf auf seinem iPad. So kann man noch Details verändern. Denn auch wenn alle im Studio ihr Wunschmotiv bekommen, möchte Nick dennoch seine Kreativität ausleben. Er sticht Traditionals: ein Stil, dessen Ursprung sich in der Seefahrt wiederfinden lässt und bis heute beliebt ist. Dicke schwarze Outlines, starke Kontraste und kräftige Farben. Die charakteristischen Merkmale fallen sofort ins Auge. Die heutige Kundin hat sich eine Rose auf dem Knie ausgesucht. Nicht gerade die angenehmste Stelle, um tätowiert zu werden. Wo sich über dem Knochen nur wenig Gewebe befindet, soll das Stechen besonders unangenehm sein. Damit alles an die richtige Position kommt, gibt es sogenannte Stencils. Das sind Schablonen, mit denen sich der Umriss des Tattoos auf die desinfizierte und rasierte Haut übertragen lässt. Mit einem speziellen Drucker wird das Motiv auf ein Trägerpapier gedruckt, welches anschließend auf die vorbehandelte Körperstelle gedrückt wird. So bleiben die Konturen ähnlich wie bei einem Abziehbild auf der Haut haften. Nachdem sie sich das Stencil im Spiegel angesehen hat, beginnt Nick die ersten Outlines zu stechen. Neben ihm auf einem kleinen Tisch steht ein winziger Topf mit schwarzer Farbe, in den er hin und wieder die Nadel taucht. Während er das tut, wirkt er sehr konzentriert, aber keinesfalls gestresst. Die Leidenschaft für seine Arbeit ist ihm anzusehen. Im Hintergrund ein ruhiger Mix aus Folk, Funk, Soul und Rock, der irgendwie nach Sommer klingt, auf gewisse Weise entspannt und den Wohnzimmervibe unterstützt. „I believe music is such an important part of Tattooing and creating a vibe in the studio to accompany the Tattoo experience“, meint er. „It also creates a rhythm and a tempo for you to tattoo to.“ Das konstante Summen der Tätowiermaschine, die ein wenig wie ein Rasierer klingt, legt eine zweite Tonspur darüber. Zwischendurch lässt sich eine Sprachmischung aus Englisch und Deutsch vernehmen, da Nick selbst hauptsächlich Englisch spricht, seine Frau hingegen beides. Nachdem er Outlines und Schattierungen gestochen hat, beginnt er mit den Farben. Neben ihm auf dem kleinen Tisch stehen jetzt mehrere der winzigen Töpfe mit roter, gelber und grüner Farbe. Fläche für Fläche vervollständigt er nun das Gesamtmotiv. Danach liegt wieder der Geruch des Desinfektionsmittels in der Luft. Zum Abschluss wischt Nick das frische Tattoo noch einmal ab und verbindet es anschließend mit einer Wundkompresse. Von diesen gibt er seiner Kundin noch ein paar für die nächsten Tage mit nach Hause.
Das Tätowieren und das Betreiben eines Studios nehmen viel Zeit in Anspruch. „I’m usually always doing something that relates to work, drawing, answering emails, cleaning, paperwork, all that boring stuff that comes along with it.“ Abseits davon lieben seine Frau und er es auch zu reisen und unterwegs zu sein. Gerade seien sie aus dem Baltikum zurückgekommen und bald würden sie wieder nach Dänemark aufbrechen. Hier zu bleiben war nie ihr Plan. Doch was sie hier in Braunschweig mit einem privaten Studio und der Wohnung im selben Gebäude erschaffen konnten, würden sie wirklich lieben. „We’ve created a really unique and special experience of getting Tattooed here in town“, sagt er, „and it will be bitter sweet to leave.“ At First Sight sei aber ein temporärer Ort und war immer als solcher gedacht. „Now the Hamburg thing has passed and we’re looking at a bigger move.“ Braunschweig sei jetzt der Ausgangspunkt, um einen Ort zu finden, der ihnen mehr bietet als das, was sie eben haben. Wohin genau wüssten sie aber noch nicht. Vielleicht in ein anderes Land. Vielleicht auch zurück nach Neuseeland. Dieses Mal mit größerem Gepäck und immer noch mit großen Träumen.