Kalter Entzug

Ich bin süchtig. Nicht nach irgendwelchen Substanzen, sondern nach Social Media. Mein leicht obsessives Verhalten geriet außer Kontrolle, deshalb wage ich einen Selbstversuch: ein zehntägiger Social Media Detox.

Etwa 20 Prozent meiner Zeit im Alltag verbringe ich auf Instagram und Co. 20! Prozent! Verlorene Zeit, die man produktiver nutzen könnte. Aufgaben für die Uni erledigen, putzen oder Quality Time mit meinen Freunden verbringen, wobei sogar da oft auf dem Handy rumgedaddelt wird. Aber nicht nur mir geht es so: Laut dem Statista Research Department beträgt die durchschnittliche Bildschirmzeit junger Erwachsener täglich etwa 204 Minuten, also etwas über drei Stunden. 

Ich scrolle auf Instagram, wenn mir langweilig ist oder, wenn ich auf dem Klo sitze und ich weiß, dass ihr euch ebenso angesprochen fühlt. Prokrastination, das Selbstwertgefühl hochtreiben oder Ablenkung suchen. Ich brauche diese Reizüberflutung und dennoch überfordert sie mich. Ich bin gespannt, ob mir dieser Detox helfen wird.

Tag eins: Höchst … ungewohnt. Greife unbewusst ständig zum Handy, obwohl ich keine neuen Benachrichtigungen bekomme – eingebrannter Automatismus. Meine Hände finden sogar bei dem Versuch, ein Buch zu lesen, den Weg zum Handy. Außerdem: jede Menge FOMO (fear of missing out). Verpasse ich die ganze Zeit was? Was treiben meine Freunde? Erneutes Drama um Selena Gomez und Hailey Bieber?! 

Tag zwei und drei: Der automatische Griff zum Handy morgens bleibt. Zu behaupten, dass ich nicht kurz davor bin, alles über den Haufen zu werfen, wäre gelogen. Ein Grund mehr, diese Herausforderung durchzuziehen. Meine Gedanken spielen völlig verrückt. Immerhin kann ich dadurch früher ins Bett gehen und mir nicht noch um Mitternacht, stundenlang Reels anschauen, um meine Freunde damit zu nerven.

Tag vier: Ich bin schockiert: Tatsächlich greife ich mittlerweile seltener zum Handy. Doch leider lässt FOMO immer noch grüßen. Nicht zu wissen, was alle anderen machen, versetzt mich in Panik. Aber nichtsdestotrotz bin ich neben den panischen Gedanken so produktiv, wie ich es schon immer sein wollte – lesen, putzen, auch mal etwas für die Uni machen und Freunde treffen (die ich leider öfter darauf hinweisen muss, dass sie gerade mit mir und nicht mit ihrem Handy verabredet sind).  

Tag fünf: Gestern war zwar ein erfolgreicher Tag, aber jetzt? Laaangweilig.

Tag sechs und sieben: Ich hab‘ endlich das Buch zu Ende gelesen, welches ich vor Monaten angefangen habe. Davor war es ungefähr so: zehn Seiten gelesen, danach Twitter geöffnet und stundenlang Tweets zu Taylor Swifts Tour gelesen.

Tag acht: To-Do-Punkte sind schnell abgehakt. Wieder produktiv gewesen! Schade, dass gerade keine Klausurenphase ist, da hätte ich meine freie Zeit echt gut fürs Lernen nutzen können.

Tag neun: Gehe nur noch ans Handy, wenn es nötig ist. (Nachrichten beantworten, mich übers Wetter informieren). Wenn man viel zu tun hat oder unterwegs ist, fällt es einem gar nicht so schwer. Aber an Tagen, wo nicht viel geplant ist, fällt es mir deutlich schwerer, die Hände davon zu lassen. 

Tag zehn: Es juckt mich wortwörtlich in den Fingern. Obwohl ich die letzten Tage viel weniger an verpasste Instagram-Posts gedacht habe, kann ich es wirklich kaum abwarten, all meine Apps wieder runterzuladen. Gewohnheiten holen einen manchmal doch früher ein, als man es sich wünscht. 

Hat mir diese Pause von den sozialen Medien was gebracht? Ja, auf jeden Fall. Hat es meine komplette Weltanschauung verändert, wie es die meisten YouTube-InfluencerInnen über Social Media Detox sagen würden? Nicht wirklich. Mir ging es darum, einen bewussteren Umgang zu entwickeln und meine kostbare Zeit nicht ständig am Handy zu verschwenden. Vor allem die Tatsache, dass ich statt sinnlosem Scrollen auf Instagram Dinge erledigt habe, die ich seit Jahren vor mir hergeschoben habe. Irgendwann war es mir dann auch egal, ob ich etwas „verpassen“ würde, was an sich auch fragwürdig ist: Was soll man denn genau verpassen? 

Komplett verzichten möchte ich dennoch nicht, weil Social Media auch unterhaltsamen und informativen Content bietet. Mittlerweile ist es schon einen Monat her, seitdem ich den Detox gemacht habe und mal gibt es Tage, wo ich länger als geplant auf Instagram und Co. verbleibe und mal Tage, wo ich nicht mal eine Erinnerung meiner Bildschirmzeit bekomme, um die App zu schließen. Solche Detox-Tage werde ich dennoch öfter in meine Routine integrieren und lege es jedem ans Herz, dies ebenfalls zu tun.

Total
0
Shares
Ähnliche Beiträge
Mehr lesen

Plattenladen — zwischen Nostalgie und Digitalisierung

Click and Play, so einfach ist Musikhören heutzutage — doch das bleibt nicht ohne Folgen. Wie kann die Musikindustrie dieser Want-It-All-Haltung der Hörer begegnen und welche Folgen hat das für Künstler? Wie passt dabei die steigende Nachfrage von Vinylplatten ins Bild? Campus38 hat mit Riptide-Besitzer Chris Ranke über den Wandel gesprochen.
VON Andrea Piekser
Mehr lesen

Kinder? Nein, danke!

Als Frau keine Kinder wollen, das kommt vielen Menschen sonderbar vor. In unserer Gesellschaft ernten Frauen dafür verständnislose Blicke, hören Belehrungen oder werden für egoistisch und gefühlsarm gehalten.
VON Mara Hofmann
Mehr lesen

Kalte Suppe auf dem Balkon

Ein Neujahresvorsatz der besonderen Art: zum Jahreswechsel habe ich, aus einer Sinnkrise heraus, eine sogenannte Morgenroutine ausprobiert. Meine Erfahrungen habe ich im folgenden Artikel ehrlich und humorvoll zusammengetragen.
VON Benedict Carli
Mehr lesen

Die Anderen und Ich

Nach wie vor herrscht in Deutschland eine drastische Bildungs- und Chancenungleichheit. Arbeiter*innenkind und Studentin? Eine eher seltene Kombination. Bahriye ist beides. Und noch so viel mehr.
VON Tosha Rana Hausmann