Verbrecher in Rente

Drei Jahre lang bricht ein Hildesheimer in etliche Häuser ein, bis er verraten wird. Das Porträt eines geläuterten Kriminellen, der sich im Sog seiner Sucht verlor.

Namen geändert*

Landgericht Hildesheim, neunte große Strafkammer. Nach 19 Tagen Gerichtsverhandlung steht das Urteil fest. Um acht Uhr wird es vor Publikum verkündet. Fünf Jahre und neun Monate soll der 20-Jährige in der geschlossenen Justizvollzugsanstalt in Vechta absitzen. Verurteilt für 59 nachweisliche Einbruchsdelikte. 

Dieser „Er“ ist Christian*, heute 53 Jahre alt. Er wohnt im Landkreis Hildesheim. Mit seiner Familie lebt er heute am Rande eines Dorfes auf einem ehemaligen Bauernhof. Nach der Arbeit als Dachdecker verbringt er seinen Feierabend gerne in Gesellschaft und unterhält sich beim Dartspielen. Sein Auftreten ist unscheinbar. Sein langjähriger Nachbar und Freund erfuhr erst vor wenigen Jahren von seiner Vergangenheit. Glauben konnte er es jedoch nicht, vermuten schon gar nicht. 

Drei Jahre lang, im Alter von 17 bis 19, begingen er und zwei Freunde etliche Einbrüche. Die Einbrüche geschahen wahllos und spontan. Nötig habe er es zu keinem Zeitpunkt gehabt, da er gearbeitet und sein eigenes Geld verdient habe. Nach den ersten Einbrüchen war die Hemmschwelle überwunden und es entwickelte sich eine Sucht. Die Einbrüche wurden zur Normalität. Davon gewusst haben nur er und seine Freunde. „Für andere war ich ein Musterknabe gewesen“, sagt er. 

Christian wuchs als Drittältester in einer Familie von sechs Kindern, davon vier Mädchen und zwei Jungen, im Stadtfeld Hildesheim auf. Seine Kindheit sei unglaublich schön gewesen, es habe keine Sorgen zu Hause und auch keine Gewalt gegeben. Die meiste Zeit verbrachte er im Freien. Neben harmlosen Revierkämpfen unter Gleichaltrigen spielte er mit einer großen Gruppe von Nachbarskindern Verstecken oder unternahm den ein oder anderen Streich. Wenn er sich nicht benahm, schrieb seine Mutter ihn in der Schule krank und schickte ihn mit seinem Vater, der Fernfahrer gewesen war, arbeiten. Später schwänzten er und seine Freunde mehr und mehr die Schule und verbrachten ihre gewonnene Freizeit am See. Die blauen Briefe fing er noch morgens ab, bevor seine Eltern überhaupt einen zu Gesicht bekommen konnten. 

Als er zwölf Jahre alt ist, steht dann das Jugendamt bei ihnen zu Hause. Zu unregelmäßig besuchte er die Schule und bereitete gleichzeitig immer mehr Ärger. Mit dem Einverständnis seiner Eltern wird er über den Stephanstift in Hannover in einer Pflegefamilie in Diepholz untergebracht. Die Familie lebte auf einem Bauernhof mit zwei eigenen Kindern. In dieser Zeit eignet er sich viel handwerkliches Wissen an, baut Trecker auseinander, übt sich in der Landwirtschaft und bringt Kühe mit zur Welt. Währenddessen besuchte er in Sulingen die Schule und hatte um spätestens 22 Uhr wieder auf dem Hof zu sein. „Offener Vollzug“, witzelt er. 

Mit 15 Jahren stand Christian das erste Mal vor Gericht. Das Heimweh verleitete ihn dazu, das Auto des Nachbarn zu stehlen und zu fliehen. Nach kurzer Fahrt landet das Auto in einem Graben. Die Scherben der zerbrochenen Fensterscheibe werden in seiner Jacke gefunden. Dieses Mal sind es nur Arbeitsstunden. Nach vier Jahren bei der Pflegefamilie kehrt Christian im Alter von 17 Jahren wieder zurück nach Hildesheim, beendet die Berufsschule und arbeitet in einer Metallgießerei. Mit der Heimkehr war auch das Wiedertreffen mit seinen alten Freunden verbunden. Die Einbrüche nahmen ihren Lauf. 

Bei den Einbrüchen habe es weder eine Strategie noch einen Plan gegeben. Sie brachen in beliebige Häuser, Tankstellen oder in das Zuhause von Restaurantbesitzern ein. Mal stand Christian nur Schmiere, mal durchsuchte er die Räume nach Wertvollem. Hauptsächlich öffnete er Fenster und Türen und machte sich dabei seine handwerklichen Fertigkeiten zu Nutzen. In den vier Wänden eingebrochen, fokussierten sie sich vor allem auf das Schlaf- und Wohnzimmer. Für die Einbrüche fuhren sie mit dem Zug in andere Städte, suchten sich ein Objekt nach Lust und Laune aus und fuhren mit den Jacken vollgestopft wieder nach Hause. Die Beute bestand hauptsächlich aus Schmuck, den sie anschließend gesammelt auf der Straße weiterverkauften und das Bargeld untereinander aufteilten. Lange blieb sich das umgesetzte Geld nicht in seinen Händen. „Was du brauchtest, hast du geholt.“ Spielhalle, Rauchen, Disco, Einkaufen. 

Laut der polizeilichen Kriminalstatistik vom Bundeskriminalamt ist gerade bei Einbrüchen die Spanne zwischen den erfassten und den aufgeklärten Fällen groß. 1988 liegt die Anzahl der erfassten Fälle von Diebstahl unter erschwerenden Umständen, das heißt unter anderem Diebstahl in/aus Wohnungen, bei 1.612.447, lediglich 266.792 Fälle davon konnten aufgeklärt werden. 2022 liegt die Zahl des Wohnungseinbruchdiebstahls bei 65.908 erfassten und nur 10.621 aufgeklärten Fällen. 

Eines Tages steht er mit dem Auto in Bochum an einer geschlossenen Bahnschranke. Sein bester Freund ist dabei. Während sie Minuten an der Schranke warten, schaut Christian ein Haus an. Er beschließt, dass er da rein will. Sie brechen ein Fenster auf und steigen in das Haus ein. Im Schlafzimmer hinter einer Gardine findet Christian einen Würfeltresor. Mit 32.000 Mark Bargeld ist das der Einbruch mit der höchsten Beute gewesen. Die, in den drei Jahren erbeutete Summe schätzt er auf eine sechsstellige Zahl. „Zwei Häuser hättest du dir bauen können“, sagt er. 

Bei einem der Einbrüche ist die Polizei schnell vor Ort. „Das war so ziemlich zum Ende, da haben sie uns quer durch Hildesheim gejagt“. Einer von ihnen, Konstantin, wird geschnappt und zwei Tage lang vernommen. Aus Mitleid wurde er damals Teil ihrer Einbrüche und stand hauptsächlich Schmiere. Als die Polizei ihn mitnahm, packte er aus und bekam drei Monate auf Bewährung. 

Während Christian an einem Freitagmorgen in Borsum ein Auto repariert, sieht ihn ein bekannter Kripobeamter zufällig. Seit zwei Monaten läuft da bereits ein Haftbefehl gegen Christian. Zwei weitere Beamte holen ihn ab. Das war der letzte Tag draußen. 

Die Gerichtsverhandlung läuft 19 Tage. „Ich bin gefragt worden, ob ich jemanden umgebracht habe, weil es so lange war“. Während des Indizienprozesses macht er weder eine Aussage noch legt er ein Geständnis ab. Das letztendliche Urteil lautet fünf Jahre und neun Monate Haftstrafe mit sofortigem Haftantritt. „Das ist ein Schlag in die Fresse gewesen.“ 

Mit 20 Jahren sitzt er in der JVA in Vechta, ein Sternenbau mit vier Flügeln auf drei Ebenen. Die bevorstehende Zeit konnte er nicht realisieren und lebte mental in zwei Welten. „Du hast dir vor Augen gehalten, was für ein geiles Leben du hattest.“ Zelle A3.10 ist seine Bleibe für die nächsten fünf Jahre, A-Flügel, Ebene drei, Raum 10. Sie besteht aus einem Bett, einem Schrank und einer Toilette hinter einer Wand. Jahrelang verbachte er allein in der Zelle. Er weigerte sich, die Zelle zu teilen, auch als Platzmangel herrschte. 

„Die Tür geht auf und du siehst nur Gitter. Jetzt ist’s vorbei.“ Sechs Monate lang ist er in einer Art Trance, verdrängt die Tatsache, dass er ein halbes Jahrzehnt festsitzen wird. Nach dem halben Jahr akzeptiert er sein Schicksal und entscheidet sich für eine Tischlerlehre, lernt und arbeitet ambitioniert. Schulisch und arbeitstechnisch sei der Alltag kaum anders gewesen als draußen. „Aber kein Feierabendbier“, scherzt er. Täglich um 6 Uhr morgens wurde die Lebendkontrolle gemacht, wo jeder Insasse ein Zeichen von sich geben musste. Anschließend wurde allen die Zelle geöffnet. Frühstück konnte sich jeder vom Tablettwagen nehmen. Wer nur Liegevollzug machte, wurde danach wieder eingeschlossen. Mittagspause gab es von zwölf bis halb zwei. 

Die rund 170 Mark verdientes Geld im Monat wurden auf drei Konten verteilt: Eigengeld, Hausgeld und Entlassungsgeld. Mit dem Hausgeld konnte er im Gefängnis einkaufen. Dafür wurde ein Mal im Monat ein Einkaufsmarkt in einem Raum aufgebaut. Was man brauchte, kreuzte man auf einem Zettel an. Zahnpasta, Kaffee, Jogginganzug. Untereinander machte man Tauschgeschäfte und feilschte um Kaffee oder Zigaretten. Von außerhalb gelangten immer wieder Drogen ins Gefängnis. Zu sechst rauchten sie mit Hilfe eines Kugelschreibers das im Gefängnis teuer gehandelte Zeug. 

Besuche konnten nur ein Mal im Monat für eine Stunde stattfinden oder alle zwei Wochen für eine halbe Stunde. Während der fünf Jahre kam seine Scheinehefrau Tatjana jeden Monat vorbei, um den Anschein einer Ehe aufrechtzuerhalten. Tatjana und Christian heirateten im Gefängnis. Nach 15 Jahren in Deutschland sollte sie nach Polen abgeschoben werden. Sie war die Freundin eines guten Freundes, also willigte er ein. Die Trauung fand in der JVA in Vechta statt. Im Beisein von zwei Trauzeugen und unter Aufsicht eines Beamten durften sie sich von einem Standesbeamten trauen lassen. 

In dem A-Flügel, in dem er untergeberacht war, befindet sich ganz unten die U-Haft, darüber Handwerker. Der B-Flügel war dem Liegevollzug vorbehalten. Wer Liegevollzug machte, bekam vom Amt monatlich 50 Mark Taschengeld. „Die haben Unterlegene unterdrückt, ähnlich wie in der Schule.“ Im C-Flügel waren die Schulgänger und die neu aufgenommenen Gefangenen untergebracht, die je nachdem, ob sie sich für Schule, Arbeit oder Liegevollzug entschieden, einem Flügel zugeteilt wurden. „Orientierungsstufe“ nennt er den Flügel. Eine Hackordnung, sagt Christian, gebe es in jedem Gefängnis. Er selbst sei weder Täter noch Opfer gewesen. Stattdessen wurde er von seinem Flügel zum GMV-Sprecher gewählt, Gefangenenmitverantwortung. Mit dieser Verantwortung konnte er, unter dem Vorwand sich mit einem anderen GMV-Sprecher besprechen zu müssen, von Flügel zu Flügel gehen und sich in deren Zelle miteinschließen lassen. Auch mit Wärtern habe es nie Probleme gegeben, „die waren auch freundlich, haben teilweise nach Ratschlägen für private Probleme gefragt“. Dass die Wärter bestechlich gewesen sein könnten, habe er nicht mitbekommen. 

In seinem vierten Jahr liegt dann plötzlich ein Sägeblatt im Gefängnis. Zu viert planen sie den Ausbruch. Christian sägt von Freitag bis Samstagabend eine Stange in seiner Zelle durch, langsam, da es sonst im ganzen Gebäude hörbar wäre. Einen Plan für draußen haben sie nicht. 

Im Hof ist ein Malergerüst, da die Mauer erneuert wurde. Sie zählen die Minuten, die die Wärterin für eine Runde braucht, fliehen mit einem aus Bettbezügen zusammen geflochtenem Seil aus seinem Fenster aus dem zweiten Stock und wollten das Gerüst an die Mauer schieben. Die Beamtin in der Ecke sehen sie nicht. Der Hausalarm wird ausgelöst, die Flucht ist gescheitert. Christian bekam zehn Monate wegen Meuterei und Sachbeschädigung, einer der anderen ein halbes Jahr Bewährung wegen Diebstahl von Staatseigentum – er trug Socken aus dem Gefängnis. 

In Deutschland wird der natürliche Drang des Menschen nach Freiheit berücksichtigt. In Artikel zwei des Grundgesetzes heißt es: „Die Freiheit der Person ist unverletzlich“. Demnach ist die gewaltlose Gefangenenselbstbefreiung grundsätzlich nicht strafbar. Jedoch gehen mit einem Gefängnisausbruch meist Begleittaten einher, wie beispielsweise Bestechung, Sachbeschädigung oder Diebstahl, die wiederum strafbar sind. 

Für manche, bestätigt Christian, seien Gefängnisse „Schulen des Verbrechens“ gewesen. Jedoch eher für Leute, „die wegen weniger schlimmen Delikten ins Gefängnis gekommen sind“. Danach wandten diese ihr neues Wissen draußen an. Eine grundlegende und nachhaltige Resozialisierung durch eine Haftstrafe zweifelt er an. „Was Vater und Mutter versäumt haben, schaffen die nicht nachzuholen“. Freiwillige Programme wurden angeboten, sollen jedoch kaum in Anspruch genommen worden sein. Ausschlaggebend sei nur der Freiheitsentzug. „Das will niemand ein zweites Mal erleben“. 

Die Zeit von 19 bis 21 Uhr, in der man sich innerhalb von 15 Minuten in eine andere Zelle, maximal zu dritt, umschließen lassen konnte, waren seine liebsten. Oft waren sie mehr Leute in einer Zelle, saßen zusammen und redeten. Ab und zu kochten sie gemeinsam. „Langweilig war es keinen Tag.“ Die letzten drei Monate vor der Entlassung wurde er wieder an die Freiheit gewöhnt und war Beifahrer vom Hausmeister. Sie brachten Kübel ins Frauengefängnis, Möbel nach Oldenburg oder fuhren zu Gerichten. „Das waren die besten Zeiten in den ganzen Jahren.“ 

Fünf Jahre und 13 Knast-Tattoos später wird er schließlich mit neun Monaten auf Bewährung entlassen. Er ist 27, ohne Kontakte zu seinen alten Freunden. Dass er entlassen wurde, wusste niemand. Er fährt direkt nach Hildesheim zu seinem Schwager, darf dort wohnen und auf dem Bau arbeiten. Nebenbei die wöchentlichen Treffen mit dem Bewährungshelfer. Seit der Haftstrafe habe er keinerlei Straftaten mehr begangen. „Der Gedanke war da, aber ich hab’s nie durchgeführt“. 

In den ersten Tagen nach der Entlassung begegnet er Marion, einer Kindheitsfreundin. Seitdem sind sie zusammen und haben heute einen gemeinsamen Sohn. Jan, Marions Sohn, war damals gerade sechs Jahre alt, als Christian 1996 aus dem Gefängnis kam. Dass seine Mutter mit ihm zusammenkam, wollte er nicht akzeptieren. Heute schätzt er ihn mehr denn je und ist stolz, ihn als Vater zu haben. „Wenn du ihn kennenlernst und mit ihm redest, würdest du niemals im Leben denken, dass er überhaupt mal im Gefängnis gesessen hat“, sagt er. 

Mit seiner Vergangenheit geht Christian nicht hausieren, macht aber auch kein Geheimnis daraus. Als schlechter Mensch würde Christian sein früheres Ich nicht bezeichnen. „Ich habe viel Scheiße gebaut, aber es hat sich trotz allem im Rahmen gehalten, da gibt es Schlimmeres.“ Für seine Taten schämt er sich nicht, es ist ein Teil seiner Vergangenheit. Ob er es bereut, kann er nicht sicher sagen, aber er habe zurecht dafür büßen müssen. Er ist stolz darauf, was nach der Haftzeit aus ihm geworden ist. „Daran kann man sehen, ein Mensch kann sich auch mal ändern.“ 

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