Herr Perli, warum beteiligen sich in Deutschland viele Menschen nicht mehr an politischen Prozessen?
Teile der Bevölkerung fühlen sich nicht mehr repräsentiert durch die Parteien und die gewählten Politiker. Das ist keine Abwendung von der Politik, sondern eher eine Unzufriedenheit mit dem, was Politik produziert. Sehr auffällig ist, dass die Wahlbeteiligung stark abhängig ist von den Einkommen. Wir sehen, dass dort, wo Menschen mit geringen Einkommen wohnen, die Wahlbeteiligung oft sehr niedrig ist. Teilweise nur 25 bis 30 Prozent. Dort, wo eher reiche Menschen wohnen, Hamburg Blankenese als Beispiel, ist sie deutlich über dem Durchschnitt.
Also fühlen sich hauptsächlich Menschen aus einkommensschwachen Bevölkerungsschichten nicht repräsentiert?
Ja, Menschen aus der Arbeiterklasse oder Erwerbslose gehen deutlich weniger wählen als Vermögende. Aber auch Vermögende gehen nicht alle wählen.
Querdenken und QAnon Bewegung fassen in Deutschland immer mehr Fuß. Sind diese Gruppen Ansammlungen Politikverdrossener?
Politikverdrossenheit ist mir da als Begriff zu verharmlosend. Das ist teilweise eine Verachtung für die Demokratie, Verachtung für unser politisches System. Darunter sind Leute, die Morddrohungen verschicken und versucht haben, das Reichstagsgebäude zu stürmen. In den USA ist das Kapitol gestürmt worden. Antidemokraten muss man Antidemokraten nennen und Faschisten sind Faschisten. Politikverdrossenheit ist ein nebulöser Begriff.
Rechnet man AfD-Wählende und Nichtwählende zusammen, hat circa ein Drittel der Deutschen offenbar das Vertrauen in das demokratische System verloren. Wieso ist dieser Wert in Deutschland so hoch?
Das Problem ist vielschichtig. Bei den großen politischen Themen der letzten Jahre und Jahrzehnte haben sich Teile der Bevölkerung entfremdet von den etablierten demokratischen Parteien. Eine Zeitenwende waren die Agenda 2010-Reformen und der massive Ausbau des Niedriglohnsektors vor rund 20 Jahren. Damit hat für viele Menschen eine Zeit begonnen, die erstens bedeutet, dass sie ärmer wurden. Zweitens, dass sie keine soziale Sicherheit mehr für ihr Alter haben. Drittens, dass sie auch nicht mal eine Sicherheit für ihren Lebensstandard haben, wenn sie unverschuldet arbeitslos werden. Das hat viele wütend gemacht und frustriert. Damals gab es Massenproteste. Aber es hat sich nichts geändert. Als dann in der Finanzkrise ab 2008 auf einmal viel Geld da gewesen ist, um die Banken zu retten, haben viele sich gefragt, warum kein Geld für die Menschen und einen starken Sozialstaat da ist. Über die Jahre haben sich Teile der Bevölkerung politisch verabschiedet. Nach dem Motto: „Ich werde von den regierenden Parteien nicht vertreten, ich bin raus.“
Spätestens nach dem parteipolitisch verfehlten Umgang mit der Flüchtlingskrise hat DIE LINKE im für sie früher starken Osten ihre Stammwählenden verloren. Warum sind die Wahlergebnisse für ihre Partei so desaströs, während die eigenen Kernthemen doch nicht an Relevanz verloren haben, eher an Relevanz gewinnen?
Ein Beispiel ist, dass Bürger*innen mir sagen: „Ihr habt versprochen, Hartz4 abzuschaffen, es gibt immer noch Hartz4!“ Dann weise ich darauf hin, dass wir uns nach wie vor gegen diese Form der Armut einsetzen. Wir sind aber im Bundestag Oppositionspartei. Es gab zweimal die Chance, eine Mehrheit mit SPD und Grünen zu bilden, 2005 und 2013. Die wollten das nicht. In so einer Koalition hätten wir die Hartz-Gesetze revidiert. Das haben wir aus der Opposition nicht geschafft. Das hat dazu geführt, dass die Frustration bei einem Teil derer, die Linke mit Hoffnung auf Veränderung wählen, gewachsen ist.
Nur kann sich DIE LINKE nach den ständigen Streits mit Wagenknecht oder dem Austritt Lafontaines nicht davon lösen, auch aus der Opposition heraus misstrauen gegenüber der eigenen Partei und damit auch dem politischen System zu schüren.
Nein, das teile ich nicht. Es ist generell in Deutschland zu beobachten, dass zerstrittene Parteien weniger gewählt werden. Deswegen ist es nie gut, wenn Parteien ihre Konflikte öffentlich austragen, wie es DIE LINKE in den letzten Jahren zu oft gemacht hat. Das muss man selbstkritisch sagen. Vom Grundsatz her gehört das Ringen um die richtige Position zur Demokratie. Die politische Debatte ist quasi ihr Lebenselixier. Andere Parteien haben es die letzten Jahre besser geschafft, Debatten nach innen zu führen.
Was ist die Antwort auf das sinkende Vertrauen der Bürger*innen in die Politik?
Erstens muss Politik die Lebensverhältnisse der Mehrheit der Menschen verbessern. Zweitens muss mehr politische Beteiligung für die Bürger*innen ermöglicht werden. Nur alle paar Jahre wählen gehen reicht nicht. Es gibt ein starkes Bedürfnis vieler Menschen, sich kontinuierlich an politischen Fragen zu beteiligen. Deswegen müssen mehr Möglichkeiten zur direkten Demokratie eingerichtet werden. Zum Beispiel Volksentscheide, auf allen Ebenen. Die gibt es vereinzelt, aber nicht auf Bundesebene. So wie in Berlin der erfolgreiche Volksentscheid Deutsche Wohnen & Co. enteignen. In Niedersachsen gab es das letzte erfolgreiche Volksbegehren vor über 20 Jahren. Die Hürden müssen runter für mehr Beteiligung, um auch Einfluss zu nehmen auf Parlamente und Parteien. Parteien müssen auch selbst mehr und einfacher Beteiligung ermöglichen, regelmäßig Mitgliederentscheide durchführen.
Wie passt Ihre Forderung nach mehr Volksentscheiden damit zusammen, dass Ihre Partei, DIE LINKE, in Berlin eine Koalition eingegangen ist mit Frau Giffey, die schon vor der Regierungsbildung in Berlin davon sprach, dass es mit ihr keine Enteignungen geben wird?
Ich widerspreche, dass die Partei das nicht durchsetzt. Es ist eine Kommission eingerichtet worden von der Berliner Regierung, die juristisch die Umsetzung vorbereiten soll. Das Grundgesetz ermöglicht eine Vergesellschaftung, in Berlin soll das bei Konzernen mit über 3000 Wohnungen angewendet werden. Aus meiner Sicht ist völlig klar – entweder es wird ein Weg erarbeitet, der dann auch gegangen wird. Oder die Linke muss aus der Koalition austreten, wenn SPD oder Grüne den Mehrheitswillen der Berliner Bevölkerung nicht umsetzen wollen. Dann muss man in Neuwahlen darauf hinweisen, wer das Votum umsetzen wollte und wer nicht.
Frau Giffey hat aber von Anfang an gesagt, dass es mit ihr keine Enteignung von Wohnungskonzernen geben wird. Warum ist man denn dann überhaupt in die Koalition eingetreten?
Das hat sie im Wahlkampf gesagt. Im Koalitionsvertrag hat sie unterschrieben, dass das Ergebnis des Volksentscheids respektiert wird und eine Kommission die Umsetzung vorbereitet. Aus unserer Sicht kann das wie gesagt nur bedeuten, es geht jetzt darum, wie der Beschluss umgesetzt wird, nicht ob er umgesetzt wird.
Victor Perli ist seit 2017 Bundestagsabgeordneter der Partei DIE LINKE für den Wahlkreis Salzgitter-Wolfenbüttel. In seiner politischen Karriere setzt er sich gegen Atomkraft ein, kämpft gegen Mindestlohnbetrug und die wachsende Vermögensungleichheit. Er ist Sprecher der Linksfraktion für Umverteilungspolitik und machte sich als Kontrahent von Skandalminister Scheuer einen Namen.