Männer reden ständig über Sex, aber bei Frauen schickt sich das nicht? Masturbation, Sextoys und Pornos erwähnt man außerhalb des Schlafzimmers lieber gar nicht? Unsere Autorin wagt sich gar nicht vorzustellen, dass Sexualität noch immer als Tabu gilt und will herausfinden, welchen Stellenwert die weibliche Lust besitzt.
Weiße Socken schauen aus den Schuhen hervor. Kleine Symbole blitzen bei jedem Schritt auf. Kaum zu erkennen, aber doch da. Ausdruck persönlicher Meinung? Die so femininen Zeichnungen wollen so gar nicht zu den klobigen Halbschuhen passen. Mode aus Überzeugung? Auf die Socken sind weibliche Brüste gezeichnet – kleine, große, asymmetrische, hängende, pralle. Ein Anblick, der selten ist. Dabei war Brüsten lange Zeit ausschließlich ein Dasein innerhalb dunkler BH-Cups vorbehalten.
Sexualität mit bitterem Beigeschmack
Um zu verstehen, was das für heute bedeutet, begeben wir uns auf eine Zeitreise. Unter dem Namen Beate Uhse gründet Beate Rotermund vor 70 Jahren einen Versandhandel. Sie verkauft Sexualliteratur und Hygieneartikel für das Eheleben. Heute klingt das nach jedem vierten Start-up, damals aber war die Gesellschaft noch nicht so offen. Zehn Jahre später folgt der erste Sexshop. Bis zu ihrem Tod expandiert das Unternehmen immer weiter. Doch es bleibt nicht so rosig: Rund 2000 Strafverfahren laufen zu Lebzeiten gegen sie. Aufgrund des Versands von Kondomen wird sie wegen Beihilfe zur Unzucht angeklagt. Mitte der Siebzigerjahre folgt die Reform des Sexualstrafrechts und verhilft der Pornografie zu einem legalen Aufschwung. Rotermund produziert und verbreitet nun auch pornografisches Material. Heute ist das Unternehmen an der Börse. Beate Rotermund ging ihren Weg für einen offenen Umgang mit Sexualität und Erotik – den Weg einer Pionierin. Doch nicht ohne Widerstände: Von der Frauenbewegung wurde sie stark kritisiert, denn die Pornos deklarierte man als sexistisch . Und doch schreiben wir ihr heute eine Liberalisierung der Sexualmoral zu.
Dazu beigetragen hat auch der Sexualkundeunterricht in der Schule. Unter dem Begriff sexuelle Aufklärung wurden zunächst vor allem Präventionsthemen behandelt. Ziel war es, die Kinder und jungen Erwachsenen vor Geschlechtskrankheiten und ungewollten Schwangerschaften zu bewahren. „Langsam schwingt diese Sichtweise um“, erzählt Sven Fritz, Sexualtherapeut und -wissenschaftler aus Braunschweig.

Unaufgeklärt durch das Bildungssystem?
Heute heißt es Sexualpädagogik und soll stärker die gesellschaftliche Rolle von Sexualität beleuchten: Pubertät, Sexualethik und anatomisches Wissen. Immer noch nicht ausreichend, kritisiert Gianna Bacio. Sie ist Sexualpädagogin und erklärt auf Social Media das, was selten vermittelt wird. 600.000 Follower hat sie auf TikTok. Dort zeigt sie, wie Liebeskugeln funktionieren und erklärt, was der Unterschied zwischen Lust und Erregung ist. Für den Schulunterricht fordert sie mehr: Lustkurven von Frauen und Männern, die tatsächliche Größe der Klitoris. „Für viele ist das Jungfernhäutchen noch eine Frischhaltefolie, die beim ersten Mal reißt.“ Bacio fordert, das Positive in der Sexualität zu vermitteln. „Ich finde, dass auch Kinder und Jugendliche lernen dürfen, dass das etwas total Lustvolles und Schönes ist.“ Sie werde oft gefragt, ob die Menschen nicht von Natur aus Sex haben können. „Klar, aber auch erfüllend? Wir müssen lernen, wie wir funktionieren und wie unsere Sexpartner funktionieren. Denn das ist völlig individuell.“ Sie plädiert dabei für noch mehr Aufklärung und bezeichnet sich selbst als Aufklärerin 2.0. Mit ihrer Arbeit liberalisiert sie Sexualität immer weiter. Denn: „Wer ein erfülltes Sexualleben hat, ist auch grundsätzlich zufriedener im Leben.“ Zu einem erfüllten Sexualleben gehört für sie auch die Masturbation. Interessant: Beate Rotermund verkaufte übrigens Hygieneartikel für das Eheleben. An Solosex war damals kaum zu denken.
Selbst ist die Frau
Tatsächlich: Ein Großteil der deutschen Bevölkerung masturbiert. Frauen dabei jedoch weniger als Männer, so eine Studie des Sextoyherstellers Tenga. Demnach sind Deutsche grundsätzlich positiv gegenüber der Masturbation eingestellt. Sie schreiben ihr eine positive Wirkung auf die Stimmung, Gesundheit und das Selbstbewusstsein zu. Und: sie hat einen positiven Einfluss auf die sexuellen Erfahrungen. Befragte, die regelmäßig masturbierten, waren grundsätzlich etwas zufriedener mit ihrem Sexleben. Dieselbe Studie hebt hervor, dass Frauen vor allem masturbieren, um sexuelle Bedürfnisse zu befriedigen oder sich sexuell zu vergnügen. Bei Männern sind die Gründe auch Entspannung, Stressabbau und um sich im eigenen Körper wohler zu fühlen. Ebenfalls große Unterschiede zwischen den Geschlechtern: Mehr als die Hälfte der Frauen nutzen währenddessen ihre Fantasie, Männer stattdessen pornografische Inhalte. Ist Pornografie also nichts für Frauen?
Trendreports der Porno-Branche machen deutlich: Männliche Kunden sind bisher die Hauptzielgruppe, wobei einige Unternehmen durchaus einen Wandel wahrnehmen. „Die Zukunft ist weiblich!“, schreibt Stripchat, eine Website für Livestreams mit sexuellen Inhalten, im eigenen Trendbericht. Laut einer Studie des Marktforschungsinstituts Ipsos stimmen Deutsche mehrheitlich dafür, dass es moralisch vertretbar ist, pornografische Inhalte in Maßen zu konsumieren. Dabei sind sie durchaus liberaler als andere befragte Länder und liegen damit über dem Durchschnitt. Und zukünftig? In der Porno-Branche wird ein Trend sichtbar: Natürlichkeit. Laut der Pornowebsite xHamster werden authentische Situationen und natürliche Körper in Pornos immer beliebter. Die Pornografie legt langsam das verstaubte Image ab und wird zur Bereicherung des Sexlebens für alle. Feministische und sex-positive Pornografie heiße das, erklärt Sven Fritz. Nicht nur bei pornografischen Inhalten wünscht er sich, dass gesellschaftliche Zwänge aufgehoben werden. „Der Ästhetik-Wahn schränkt in vielen Lebenssituationen ein.“ Bei Frauen stellt er fest, dass häufig überhöhte Körperideale zu Unsicherheit und Scham führen und damit das Wunsch-Sexleben beeinträchtigen können. „Dabei ist die Sexualität das Normalste der Welt”, meint Gianna Bacio. „Wir alle sind so ganz natürlich auf die Welt gekommen.“ Und zur Sexualität gehöre eben auch der Körper, in all seiner natürlichen Weiblichkeit, so Bacio weiter.
Dildos, Vibratoren und Co.
Körperfremd, aber doch allseits beliebt, sind Sexspielzeuge. Vielfältig und bunt schillert heute das Angebot vieler Onlineshops. Laut einer Umfrage von Tenga erfreuen sich Sextoys größter Nachfrage – vor allem bei Frauen. Tendenz steigend. Das kann positive Auswirkungen haben: Die Tenga-Studie stellt hervor, dass Befragte, die Sextoys nutzten, mit ihrem Sexleben zufriedener waren – von der Qualität der Orgasmen bis hin zur eigenen sexuellen Leistung. Auch außerhalb des Schlafzimmers sollen die Toys Positives bewirken, macht die Befragung deutlich: Regelmäßige Sextoy-Nutzende finden ihren Körper schöner und fühlen sich selbstbewusster. Und doch sind sich fast drei Viertel dieser Befragten einig: Sexspielzeuge sind noch immer ein gesellschaftliches Tabu. Gianna Bacio zeigt jedoch auch Tücken auf und plädiert für das Selbstmachen. Die Sinnesrezeptoren in der eigenen Hand seien total wertvoll, weil sie uns direkt etwas zurückgeben können. Außerdem sei die Vibration von Sextoys unnatürlich, fast eine Überreizung: „Kein Körper könnte das leisten.“ Für sie sind Sextoys vor allem eine nette Abwechslung. „Es ist klar, dass Frauen so schnell zum Höhepunkt gelangen, jedoch besteht dann die Gefahr, dass der Kick nur noch so hergestellt werden kann. Der Körper ist ein Gewohnheitstier“, erklärt Bacio.
Einfach mal Tacheles reden
Erfüllte und selbstbestimmte Sexualität heiße jedoch nicht immer Dauersex, erklärt Gianna Bacio. Das sei viel individueller. Alle kochen ihr eigenes Süppchen – mit ihren ganz eigenen Zutaten. So solle man für sich selbst reflektieren, wo und wie sehr man der Sexualität einen Stellenwert im Leben geben will. Und auch wie öffentlich das geschieht. Deutsche sind bereits dabei: Der Großteil der Tenga-Befragten redet offen über Masturbation und Sextoys. In dieser Studie ist für weniger als die Hälfte die Sexualität ein privates Thema. Hierüber sind sich die meisten einig: Sexualität ist und bleibt etwas sehr Intimes. Doch im intimen Privaten herrscht nicht immer Offenheit. Für viele Menschen ist die Sexualität nicht gerade liebstes Gesprächsthema. Dabei sei Kommunikation so wichtig, erklärt Gianna Bacio. Sie fordert, die Sexualität zu entmystifizieren. „Wir dürfen lernen und neugierig herausfinden, wie wir und unsere Sexualpartnerinnen und -partner funktionieren.“ Schön, wenn es so einfach wäre. Dass trotz aller Natürlichkeitstrends weiterhin Leistungsdruck herrscht, macht die Tenga-Studie deutlich: 76 Prozent der befragten Frauen hatten schon einmal einen Orgasmus. Aber ganze 47 Prozent täuschten bereits einen Höhepunkt vor.
Sex ist wie Spaghetti?
Die weibliche Lust ist gesellschaftlich im Kommen. Jede aber müsse selbst entscheiden, wie sehr frau sich davon mitreißen lassen möchte, verdeutlicht Gianna Bacio. Aber nicht übertreiben: „Mit der Sexualität ist es wie mit einer guten Mahlzeit“, erzählt Sven Fritz. Am besten schmecke es mit ausgewogenen Zutaten. Zu viel Masturbation und ein zu hoher Gebrauch von Sexspielzeugen zerstören langfristig das Liebesleben. In Maßen heißt die Devise. Der Sexualtherapeut warnt, dass das sexuelle Empfinden abstumpfen kann. Wer Pornos schaut, gewöhnt sich langfristig an Leistung und Verhalten dort. Auch mit der Masturbation verhält es sich so. Eine gute Nachricht zum Schluss: Socken mit Brüsten darauf lassen sich aber ohne Bedenken täglich tragen.