Mühsam bewegt sich Choice (Name geändert) aus der Linie 2 Richtung Rethen. Nur langsam humpelt sie aus der Stadtbahn. Die Menschenmassen rauschen an ihr vorbei, ein paar Blicke bleiben hängen und suchen dann doch das Weite. Ihren Einkaufstrolley hinterher ziehend stoppt sie vor einem Mülleimer der U-Bahn-Station des Hannoveraner Hauptbahnhofs. Sie greift in ihre rechte Jackentasche, zückt ein Taschentuch, breitet es großflächig auf ihrer Hand aus und greift schließlich in den Mülleimer.
Eine Szene, die in den Städten Deutschlands nur allzu oft zu sehen sind.
Die FlaschensammlerInnen
Seit der flächendeckenden Einführung des Einwegpfands und dem damit verbundenen Gesetz zum Pflichtpfand im Jahr 2006, sind PfandflaschensammlerInnen aus dem Städtebild nicht mehr wegzudenken. Ursprünglich war diese Einführung an dem „Grundsatz der Nachhaltigkeit sowie dem schonenden Umgang mit den Ressourcen orientiert,“ so Sebastian J. Moser, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Soziologie in Tübingen.
Die parallel stattfindende Fußball-Weltmeisterschaft in Deutschland zeichnete aber ein ganz anderes Bild und brachte schließlich die FlaschensammlerInnen hervor. Seit jeher sind sie omnipräsent und doch so versteckt: Denn die Frage nach den Beweggründen dieser Tätigkeit, beantwortet ein Teil der Gesellschaft mit einem negativen Beigeschmack. Sie nennen sie obdachlos, Nichtsnutz oder Schmarotzer: Doch Flaschen zu sammeln bedeutet auch den eigenen Mantel der Würde nur gelockert mit sich zu tragen. Aussagen wie: „Geh doch einfach arbeiten“, ziert ein gesellschaftliches Bild des Flaschensammelnden, dessen Tätigkeit nicht als richtige Arbeit anerkannt wird. Zu diesem Bild trägt der Staat selbst maßgeblich bei, denn ihr Tun wird weder als Erwerbsquelle oder Arbeit anerkannt, noch werden sie statistisch erfasst.
Dennoch wird in dem Gespräch mit Braunschweiger Passanten deutlich, dass das Meinungsbild der Gesellschaft ein vielseitiges ist, in der auch erhebliches Mitleid gezeigt wird:
Die Gründe hinter dieser Lebensentscheidung kann man zwar mutmaßen, man erfährt jedoch erst im Gespräch mit ihnen, worum es wirklich geht. „Einmal die Woche hab‘ ich Yoga, ich geh schwimmen. Und das Üstra-Ticket ist so teuer. Aber ich liebe Kinder. Ich will mit Menschen reden. Das macht mir viel Spaß,“ so Choice. Der Name ist erfunden, die Person und ihre Schilderungen aber echt. Ihre Angst, in den Medien mit ihrem richtigen Namen schlecht dazustehen macht umso mehr deutlich, mit welcher Scham und Angst dieses Thema behaftet ist. Etwas Geld reinkriegen, das Gefühl vom Alleinsein und mit Menschen reden zu wollen ist keineswegs ein Schicksal, dass Choice allein trägt. Viel mehr steht sie für den Großteil der Flaschensammelnden.
„Die meisten, die Flaschen sammeln, sind in irgendeiner Art von Armut betroffen“, so der Soziologe Alban Knecht zu Deutschlandfunk. Der Begriff Armut wird hier bewusst offen formuliert, denn es handelt sich nicht nur um den Aspekt des Geldes. Sammeln, so Moser, sei auch immer ein Sichtbarmachen des Abwesenden, mit dem Ziel, des Zusammentragens oder Auffindens von mehreren Objekten. Es geht also nicht nur um das Einsammeln von Flaschen und den damit verbundenen monetären Wert. Es geht um die Lösung von Krisen und diese von ihm angedeutete Krise hat auch einen Namen: Einsamkeit.
Einsamkeit ist die neue Armut
Einsamkeit ist ein subjektives Gefühl, was wir alle schon einmal empfunden haben und noch empfinden werden. Es ist ein Gefühl, dass durch kulturelle und persönliche Vorstellungen von einer sozialen Beziehung geprägt ist. Im Lebenslauf sind vor allem Menschen im Alter zwischen 30 und 60 einsam. Ab 75 Jahren steigt die Einsamkeit dann stark und kontinuierlich an. Es ist nicht neu, dass der demographische Wandel in Deutschland deutlich macht, dass es immer mehr ältere Leute geben wird, die den größeren Anteil der Bevölkerung ausmachen. 2021 liegt der Anteil an über 67-Jährigen bei über 20 Prozent und die Tendenz ist steigend.
Circa ein Drittel stehen aktuell vor dem Ruhestand. Grund dafür ist die Babyboomer Generation aus den Jahren 1946 bis 1964. Wir müssen also der Tatsache ins Auge blicken, dass wir es heutzutage mit einer sehr großen Zahl an alten Menschen zu tun haben, die in ein Alter kommen, in dem Einsamkeit potenziell ein Thema wird. Der deutsche Alterssurvey (DEAS) zeigt, dass circa 8 Prozent der 65 bis 84-Jährigen unter Einsamkeit leiden. Das sind ausgerechnet ganze 1,2 Millionen Menschen.
Neben den subjektiven Faktoren für Einsamkeit, existieren trotz allem zahlreiche Studien wie auch die DEAS, die belegen, dass auch objektive Faktoren das Gefühl der Einsamkeit begünstigen. Unter anderem gehören Armut und der Mangel an einer sinnvollen Beschäftigung zu diesen. Zu niedrige Renten sind derzeit ein großes Problem, welches sich durch den demographischen Wandel immer mehr verstärken wird. Die Zahl der jungen Menschen, die in die Rentenkasse zahlen schrumpft und die Generationen der Alten, die die Rente beziehen, steigen. Das Finanzierungssystem der Rente gerät ins Schwanken.
Während viele Organisationen, wie die Caritas, die Deutsche Tafel oder Telefonseelsorgen, älteren Menschen beiseite stehen, nehmen einige ihr Schicksal selbst in die Hand und suchen nach eigenen Lösungen.
„Es ist wie eine Art Beschäftigungstherapie für mich,“ so Heinz Georg, der mit dem Flaschensammeln seine Flucht aus den eigenen vier Wänden ermöglicht und dazu seine Rente etwas aufbessern kann. Denn Zuhause ist es für ihn unerträglich. Er lebt allein. Doch am Hannover Kröpcke hat er heute Anschluss gefunden.
Mit einem Lächeln stellt er seine Einkaufswägen ab, bereitet alles vor und wartet auf die ersten 96-Fans. Die ersten Flaschen klirren, der Einkaufswagen beginnt sich zu füllen und man hört ein herzvolles Dankeschön von Heinz. Mit einem angestrengten Blick auf die Kröpcke Uhr sagt er ganz gelassen: „Ach pass mal auf, die kommen noch. Es ist doch erst Drei. Das wird noch proppenvoll!“
Du bist von Einsamkeit betroffen? Dann wende dich an diese Stellen:
BMFSFJ Pflegetelefon: 030-20179131
Silbernetz Telefon: 0800 4 70 80 90
Digitaler Engel – Hilfe für ältere Menschen und Kurse für den Umgang mit digitalen Medien
Malteser – miteinander füreinander