Irgendwo tief im Harz steht ein verlassenes Hotel, in dem einst reges Leben herrschte. Doch mittlerweile wurde es vom ersten Haus am Platz zu einem Geisterhaus. Prunkvoll sieht es aus, fast schon malerisch. Durch die Flügeltür betreten wir den festlichen Saal. Licht strömt durch die großen Fenster an beiden Seiten in den Raum. Mittig ragen drei Kronleuchter herab. Die aufwändig verzierten Säulen stützen die mit Stuck besetzte Decke. Nur eins fehlt: die Gäste.
Schon seit mehreren Jahrzehnten hat niemand mehr in dem Harzer Hotel übernachtet oder gefeiert. Hier ist die Zeit stehen geblieben. Im Harz gibt es unzählige verlassene Gebäude, darunter Heilstätten, Ferienheime oder Hotels. Gerade in dieser Region sind viele auf engem Raum vorzufinden. Lost Place-Begeisterte auch Urban Explorer genannt, schätzen diese Orte und sind auf den Spuren der Vergangenheit. Doch hinter den schaurig schönen Bildern verbergen sich oft Gefahren. Es ist die Begeisterung hinter dem natürlichen Zerfall, der für die FotografInnen wie Anna (Name geändert) besonders interessant ist. Anna ist 47 Jahre alt und fotografiert seit über fünf Jahren verlassene Orte. Schon immer verspürte sie eine Faszination gegenüber Lost Places. „Wenn ich groß bin, dann gehe ich da rein“, sagte sie damals zu ihren Freunden. Früher hat sie mit dieser Aussage nur verwunderte Blicke auf sich gezogen. Es sei verrückt, viel zu gefährlich. Mittlerweile geht sie mit einem Freund regelmäßig los und besucht die unterschiedlichsten Orte.
Durch ein Foto ist sie auf das Hotel aufmerksam geworden. Recherchen über das Internet und ihre Kontakte waren erfolgreich. Der Standort ist uns bekannt. Das Hotel ist zugesperrt, aber seit einigen Tagen soll es einen Zugang geben. Also schnell: die Ausrüstung in den Rucksack. Und die Akkus? Der erste ist aufgeladen, der zweite halb voll, der dritte wurde leider mitgewaschen und der Vierte ist nicht aufzufinden. Egal. Wir fahren los. Über die kurvigen Straßen des Harzes erreichen wir die Stadt am nordöstlichen Rand des Gebirges. Vor dem zentral gelegenen Gebäudekomplex befindet sich ein großer Park. Eine Gruppe von Kindern spielt davor mit einem Ball. Etwas weiter unten betrachtet ein Pärchen die außergewöhnliche Architektur des Hotels. Wir parken etwas abseits und gehen auf das Gebäude zu. „Wie sollen wir da nur unbemerkt hineinkommen?“, flüstert sie. So unauffällig wie möglich bewegen wir uns um das Gebäude herum. Bei jedem kleinsten Geräusch ein panischer Blick nach hinten und zur Seite. Es scheint uns keiner gesehen zu haben. Der Innenhof ist mittlerweile komplett zugewachsen. Nacheinander begutachten wir die Türen und Fenster. Alles zu.
„Nimm nichts mit außer Bilder, hinterlasse nichts außer Fußspuren.“
So lautet der Leitspruch der Szene, der in fast jeder Gruppe und in jedem Forum zu lesen ist, und an den sich alle zu halten haben. Es werden ausschließlich Gebäude betreten, bei denen der Einstieg über offene Fenster oder Türen möglich ist. Es steht keinem zu, etwas zu entwenden, zu verändern oder gar zu zerstören. Dadurch grenzen sie sich vom Einbruch im herkömmlichen Sinne sowie zu den Vandalen und Sprayern ab, die sich in diesen Gebäuden verewigen. Klar handelt es sich dabei trotzdem um Hausfriedensbruch, das ist ihnen bewusst. Rechtlich gesehen gibt es keinen Unterschied zwischen einem bewohnten und einem verlassenen Gebäude. Schon mehrmals kam Anna mit der Polizei oder dem Ordnungsamt in Kontakt. Bisher ist alles glimpflich verlaufen und abgesehen von der Aufnahme der Personalien und einem Gespräch ist nichts passiert. Sie war schon fünf Mal erfolglos vor diesem Hotel. Immer waren alle Türen und Fenster geschlossen oder mit Brettern vernagelt. Doch heute scheint das Glück auf unserer Seite zu sein. Das Adrenalin schießt in den Körper, der Nervenkitzel ist kaum zu beschreiben. Ein offenes Fenster. Wir klettern vorsichtig in das Gebäude. Ein leichter Geruch von morschem Holz und modriger Tapete breitet sich in unseren Nasen aus. „Der Geruch hat etwas ganz Eigenes, das mag ich“, sagt Anna schmunzelnd.

Wir versuchen uns so leise wie möglich zu bewegen, bei jedem Schritt knarzt es unter den Füßen. Wir erreichen einen schier endlosen Gang. Überall auf dem Boden liegen alte Türen und Bretter. In der Ecke steht ein moderner Feuerlöscher.
Durch die sozialen Netzwerke kam es vor einigen Jahren zu einem Aufschwung der Lost Place Szene. Es fällt leichter, seine Erlebnisse zu teilen und zu verbreiten. Immer mehr Leute sind von diesen Orten fasziniert und die Bekanntheit zieht Folgen nach sich. Neben weiteren Begeisterten werden die negativen Folgen immer deutlicher. „Die Gebäude überleben nicht mehr lange“, meint Anna bedrückt. Sie verfolgt diese über Jahre hinweg und stellt fest, dass die Spanne, bis man ein Gebäude nicht mehr betreten kann, immer kürzer wird. Die Leute gehen respektlos mit diesen Spuren aus der Vergangenheit um. Die Bauwerke werden besprüht, beschmutzt und verwüstet. Die Relikte aus vergangener Zeit werden zerstört, die Scheiben werden eingeschlagen. Es kommt zu Vandalismus. Viele der FotografInnen, die durch die verlassenen Gebäude schleichen, möchten nicht mit richtigem Namen in die Öffentlichkeit. Oft werden sie mit negativen Eigenschaften in Verbindung gebracht. Es ist eine zurückgezogene, aber dennoch aufmerksame Gemeinschaft. Es ist eine Szene, die einander kaum kennt und dennoch zusammenhält. Über Foren und Gruppen tauschen sie sich untereinander aus. Sie teilen ihre Erfahrungen und Geschichten. Der genaue Standpunkt eines Ortes bleibt jedoch geheim, so der Kodex. Um sowohl die Nachahmer als auch die Gebäude selbst zu schützen, soll kein Ort öffentlich gemacht werden.
Bedacht überquert Anna die Türen und Bretter. Überall liegen Steine und Glasscherben der zerbrochenen Fenster. Eine Taschenlampe hat sie immer dabei. Ohne ihren Rucksack wird kein Lost Place betreten. Zu ihrer Ausrüstung zählen neben festem Schuhwerk und einer Kamera auch Handschuhe, etwas Wasser und eine Maske, die sie bei Verdacht auf Schimmel trägt. Wir betreten den Eingangsbereich des Hotels. Die Tapete löst sich von den Wänden und durch die abgeblätterte Farbe an der linken Seite schimmern alte Farbschichten hindurch. Auf beiden Seiten erstreckt sich ein symmetrischer Treppenaufgang in die nächste Etage. Durch die besprayten Fenster erkennen wir die Silhouetten einiger Menschen. Wir müssen direkt daran vorbeigehen. Es ist eine gefährliche Leidenschaft und an Mut darf es nicht mangeln. Urban Explorer sind mindestens zu zweit unterwegs. Als Absicherung, falls etwas passiert. Ein Blick für die Statik und den Zustand des Gebäudes ist eine Voraussetzung. Zwar sieht es auf den Fotos harmlos aus, jedoch muss mit allem gerechnet werden: Decken, die jeden Moment zusammenbrechen könnten und Treppen, deren Stufen ins Nichts führen. Anna erzählt, dass Unerfahrene sich oft nicht bewusst sind, dass sie sich in Lebensgefahr begeben und deutet auf den Spalt im Boden. Man muss immer aufmerksam sein. Eine Schürfwunde oder ein blauer Fleck gehören dazu. Schon mehrmals hörte sie von FotografInnen, die sich schwer verletzt haben. Der Krankenwagen musste kommen und das Gebäude wurde erneut verschlossen.
Der Nervenkitzel macht für Anna den Reiz aus. Die Gefahr erwischt zu werden, aber auch die Suche nach einem einzigartigen Motiv sei ein Highlight ihrer Leidenschaft. Sie schmunzelt, als sie die heile Gardine an der linken Seite der Fensterfront entdeckt. In fast jedem Gebäude hänge mindestens eine Gardine und eine Lampe. Diese empfindlichen Gegenstände sollten eigentlich bei jedem Windzug kaputtgehen und trotzdem überleben sie, meint Anna. „Sie sind nicht schön, aber sie sind da.“ Sie schwärmt für die Liebe zum Detail und macht auf die unterschiedlichen Strukturen der abgeblätterten Farbe aufmerksam.

Geschichte des Verfalls
Theodor Fontane zählte zu den damaligen Besuchern des Hotels. Als gebürtiger Berliner hielt er es im Sommer nicht in der Stadt aus und verbrachte seine Sommerfrische mehrmals in diesem Hotel. Früh morgens saß er auf dem großen Balkon über dem Eingangsbereich. Kaum eine Menschenseele befand sich zu solch früher Stunde an diesem Ort. Er beobachtete das anfängliche Treiben auf der angrenzenden Parkwiese und der Schwalben, die im Zickzack umherflogen. Die herrschende Stille wurde von Klängen der wenigen Gäste und den Vorbereitungen für das Frühstück unterbrochen und mischte sich mit dem Rauschen der Bode. Er nutzte die Zeit, um an seinen Werken zu schreiben und ließ sich von seinen Erlebnissen im Hotel inspirieren. Theodor Fontane betont den „besonders eleganten Service und das große und prächtige Fliederbouquet“ in seinem Roman Cécile, welcher zum Teil in dem Hotel spielt. Er trat seine Urlaube vermehrt allein an und berichtete über diese in Briefen an seine Lieben.
Hotel, Lazarett, Schule, Rathaus. Es begann mit einem guten Einfall: Touristischer Aufstieg in der Harz-Region, Nähe zum Bahnhof und zur Natur. Viele Jahrzehnte war es mit seinen über 100 Zimmern und Suiten die erste Anlaufstelle gehobener Sommergäste. In den Reiseführern galt es als das vornehmste Hotel der Gegend. Bekannte und reiche Persönlichkeiten zählten zu den Gästen. Doch der Aufschwung hielt nicht lange an. Aufgrund der schwindenden Bedeutung als Kurort blieben die Tourist:innen aus und der Betrieb wurde eingestellt. Im ersten Weltkrieg hielt das Gebäude als Lazarett für Kriegsverwundete her. Es folgten zahlreiche Versuche, das Gebäude anderweitig zu nutzen: als Schule, Rathaus und Bibliothek. Seit fast 20 Jahren steht der Gebäudekomplex inzwischen leer und ist dem Verfall überlassen. Doch bald erfährt das Hotel seine Renaissance. Frank Hirschelmann, der Bürgermeister von Thale, berichtet: „Die ersten Bauanträge sind genehmigt.“ Bald beginnt der Umbau in ein Altenwohnheim. Der Saal soll erhalten bleiben und für die Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. Der Charakter des Hauses bleibt.
Unser Ausflug neigt sich dem Ende. Langsam gehen wir die große Treppe Richtung Eingangsbereich hinunter. Immer achtsam, dass wir keine Geräusche verursachen. Draußen hören wir immer noch spielende Kinder. Plötzlich ein lautes Knacken. Unter Annas Fuß zerbricht eine Glasscherbe. Wie versteinert stehen wir da. Die Kinder verstummen.
Dieser Beitrag gewann den Campus38-Preis 2021 in der Kategorie Print.