Mama, wo bist du?

Eine Kuh kann ungefähr 25 Jahre alt werden. Ein Leben, das auf unterschiedliche Weisen verlaufen kann. Vielleicht wird das Kalb an der Seite der Mutterkuh im Familienverband groß werden. Vielleicht wird es dem Tier auch ganz anders ergehen.

Sobald das Kalb das Licht der Welt erblickt hat, entwickelt sich zwischen Mutter und Kind eine tiefgreifende Bindung. Die Mutter sucht ihr Kalb in den ersten Tagen am Geburtsort für das Säugen am Euter auf und leckt es ab. Es entsteht eine enge Bindung. Oft reiben sie liebevoll ihre Köpfe aneinander. Rindern ist es möglich, einen Geruch in zehn Kilometern Entfernung wahrzunehmen. Darüber hinaus sehen sie auch noch in weiter Ferne scharf. Durch Laute, Körperhaltungen und Pheromone verständigen sie sich. Zufriedenheit, Interesse und auch andere Emotionen, wie Wut, Leid und Angst können sie so zum Ausdruck bringen. Sozialbeziehungen sind wichtig für Rinder: Der

Verlust von besten Freunden und Familienmitgliedern geht ihnen nahe.  Das Herdensystem ist komplex. In jeder Herde gibt es einen Anführer. Sein Status ist jedem Tier bewusst. Er wird nach Führungsqualitäten, wie Intelligenz und Erfahrenheit, ausgesucht. Demnach sind Kühe weitaus mehr intelligent, als es den meisten Menschen bewusst ist. Sie freuen sich über intellektuelle Herausforderungen und leben auf eine sozial vielschichtige Weise. Unter anderem können sie den Hebel einer Tränke für Wasser oder den Knopf an einer Maschine für Weizen betätigen.

Doch das Leben des Kalbs wird anders verlaufen, wenn es von einer Milchkuh in der Intensivtierhaltung geboren wird. Ihr Leben startet schon von Anfang an anders als es eigentlich von der Natur vorgesehen ist. Denn unmittelbar nach der Geburt wird das weibliche Jungtier von der Mutterkuh getrennt. Das ist immer mit Stress für beide verbunden, oft rufen die Mütter ihre Kälber noch tagelang. Die Nahrungsaufnahme erfolgt für das Kalb nun aus Eimern oder Getränkeautomaten. Später werden mit einem heißen Brennstab die mit Nerven durchzogenen Hörner abgetrennt, welche eigentlich für Körperpflege und Wärmeregulierung nötig sind. Liegeboxen, Fressgitter, Melkbereiche und Laufgänge: Sie definieren fortan das Zuhause der jungen Kuh.

Bei der Laufstallhaltung leben die Kälber fortan mit fremden Kühen in einer Halle, aufgrund der Enge reagieren manche aggressiv. Der Boden besteht aus Beton oder aus Spaltenböden. Außerdem gibt es oft automatische Entmistungsanlagen, wobei junge und geschwächte Rinder versehentlich schon mal in den Gülleabfluss geschoben werden können.

Im Gegensatz zu dieser Haltungsform, also der Laufstallhaltung, könnte das Kalb fortan auch in der Anbindehaltung leben. Um den Hals wird ein Gurt, Ketten oder ein Halsrahmen gelegt. Nun wird es im Anbindestand stehen und zwar fixiert. Dieser Ort vereint den Ess- und Liegeplatz. Sollte die Kuh es in der Enge schaffen, sich hinzulegen, liegt ihr Euter in ihren eigenen Exkrementen. Das durchgängige Stehen führt zu Muskelüberdehnungen, einer Fehlstellung der Vordergliedmaßen und Druckstellen sowie Geschwüren an den Klauen. Nach fünf bis sechs Jahren endet das Leben der Kuh. In der konventionellen Weidehaltung wird das Kalb ebenfalls ohne Mutter groß. Es darf durchschnittlich 25 Wochen jährlich auf der Weide leben, den Rest des Jahres verbringt das Tier in einer der anderen beiden Haltungsformen. In diesen können natürliche Grundbedürfnisse nicht ausgelebt werden. Dazu gehören normalerweise Erkunden, Gehen, Grasen, Ruhen oder Galoppieren. Auch das Sozialverhalten kann nicht entfaltet werden. 2019 lebten in Deutschland von ungefähr 11,6 Millionen Rindern etwa vier Millionen Kühe in der Intensivtierhaltung. Allein für die Produktion von Milch.

Wie das Leben des Kalbs aussehen wird, kann es selbst nicht beeinflussen. Angebot und Nachfrage bestimmen unseren Markt: sinkt die Nachfrage nach Produkten von Kühen aus der Intensivtierhaltung, sinkt auch das Angebot. Das Schicksal eines Individuums liegt in den Händen der KonsumentInnen.

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