Verwüstete Auswärtsblöcke, fliegende Feuerwerkskörper, Schlägereien im und um das Stadion: In Deutschlands Volkssportart Fußball nimmt die Anzahl von Gewaltfällen zwar zunehmend ab, die Auswirkungen der wenigen und teils extremen Fälle, sind allerdings immer noch verheerend. Betroffen sind vor allem die drei Profiligen und die fünf Regionalligen. Oft berichten Medien von neuen Entgleisungen der Fans. Um diesen Prozess einzudämmen, erhöhen die Behörden das Polizei- und Sicherheitsaufkommen kontinuierlich. Es gibt zunehmend Verbote und auch der normale Fan muss beim Stadionbesuch Einschränkungen hinnehmen. Der Sicherheitsaspekt ist dabei sicherlich ein positiver Faktor, doch viele Fans empfinden ihre Freiheit in Deutschlands Stadien als stark eingeschränkt.
Fans verurteilen Polizei und Politik
Bei Vereinen und Fan-Hilfen gehen nach jedem Spiel mehrere Beschwerden ein. Frauen berichten von Belästigungen durch den Ordnungsdienst, Männer klagen über unberechtigte Gewalt. Doch bei der Aufklärung dieser Fälle erhalten die kontaktierten Behörden meist nur wenig Unterstützung. Zwar sei die Kameraüberwachung der Polizei mittlerweile „fast bis zur Perfektion“ gebracht worden, doch „nur fast“, erklärt Harald Habekost, stellvertretender Pressesprecher der Fan-Hilfe „Blau-Gelbe Hilfe“. „Wenn es darum geht, Polizeigewalt gegen Fans nachzuweisen, existieren ausgerechnet vom betreffenden Zeitraum keine Aufnahmen oder es wird behauptet, es sei nichts strafrechtlich Relevantes auf den Aufnahmen zu finden“, berichtet er weiter.
Habekost ist seit einigen Jahren in der Fan-Hilfe des Zweitliga-Klubs Eintracht Braunschweig aktiv. Bevor er sich mit der Materie Fußball und dessen Fankultur auseinandersetzte, teilte er die Meinung, eines Großteils der Bevölkerung vertritt: „Es werde schon seine Gründe haben, wenn Polizisten derart rigide gegen Fans vorgehen.“ Doch nach seinem Einstieg bei der Blau-Gelben-Hilfe änderte sich seine Sichtweise drastisch. „Als ich Einblicke gewinnen konnte, wurde mir mehr und mehr klar, dass Fußballfans regelmäßig als Staatsbürger zweiter Klasse behandelt werden. Es fielen mir insbesondere die drakonischen Strafen auf, die in mir ein Ungerechtigkeitsgefühl auslösten“, sagt er heute. Mittlerweile missfällt Habekost aber noch mehr – vor allem die Videoüberwachung in den Stadien kritisiert er. Nicht nur, weil sie für die Aufklärung von Fan-Hilfe-Beschwerden nur selten eine Hilfe sind. Sondern auch, weil sie „alle Stadionbesucher unter einen Generalverdacht stellen.“ Denn als Fußballfan, egal ob in der aktiven Ultra-Szene bekannt oder nicht, könne man aktuell keinen Schritt im Stadion machen, „ohne von mindestens einer Kamera überwacht zu werden“, so Habekost. Meist beginne die Überwachung bereits auf dem Weg zum Stadion. Polizeikameras und Drohnen als ständiger Begleiter.
Die größte Einschränkung auf dem Weg zum Spiel des Lieblingsvereins erleben die Fans jedoch bei der Anreise. Bei Heimspielen verläuft diese meist stressfrei, bei Auswärtsspielen oft holprig – besonders wenn man mit der aktiven Szene in einem Sonderzug anreist. „Die Polizei setzt nicht selten wegen Kleinigkeiten Personengruppen fest, kesselt sie also ein. Dieser Kessel kann mehrere Stunden dauern, auch im Winter. Es ist in dieser Zeit nicht möglich, sich etwas zu trinken zu holen oder auszutreten“, schildert Habekost. Auch die Polizeieskorten vom Bahnhof zum Stadion sorgen häufig für Beschwerden, da es den Fans auch hier nicht erlaubt ist, sich zu verpflegen oder eine Toilette aufzusuchen. „Dabei kann eine Auswärtsfahrt sehr lange dauern“, merkt er an. Auffällig bei diesen Maßnahmen: Die Polizei und Sicherheitskräfte unterscheiden häufig nicht zwischen den „normalen Fans“ und der aktiven Fan-Szene. „Alle müssen diese Prozedur über sich ergehen lassen. Es kommt auch nicht selten vor, dass normale Zuschauer in den Strudel der Polizeigewalt geraten.“ Diese wird laut Habekost zudem oftmals mutwillig von Polizisten ausgeübt. „Viele Polizisten provozieren Auseinandersetzungen mit Fans, um sie dann brutal verprügeln zu können.“
Politik begründet: Maßnahmen schützen vor Ausschreitungen
Die Politik ist sich dem Ärger der Fans und vor allem der Gruppierungen bewusst. „Allerdings müssen wir das Thema nicht überdramatisieren. Im Vergleich zu anderen Ländern reden wir noch über ein anderes Niveau“, merkt der SPD-Landtagsabgeordnete Julius Schneider an. Schneider besucht privat gerne Stadien, war zuletzt aber auch beruflich vor Ort. Im Rahmen seiner Tätigkeit als Mitglied des Ausschusses für Inneres und Sport besuchte er das Niedersachsenderby zwischen Hannover 96 und Eintracht Braunschweig der Saison 2024/25. Schneider sah eine Partie, die kurz vor dem Abbruch stand. Fliegende Feuerwerkskörper, ein schwarzer Mob aus gewaltbereiten Fans und ein Banner, das die aktuelle Innenministerin Niedersachsens, Daniela Behrens, im Fadenkreuz zeigte. Das Niedersachsenderby war somit ein perfektes Beispiel für eine einfache Begründung der Maßnahmen. „Die Einschränkungen gibt es eben nur wegen dieser Gewaltausbrüche. Bei zu viel Lockerung knallt es“, ergänzt Schneider. Generell empfindet der Politiker dabei ein Gefühl der Sicherheit im Stadion, die Problematik sei vielmehr die Gewalt rund um die Fußball-Partien. „Im Stadion haben wir kein Gewaltproblem“, sagt er.
Angesprochen auf die vielen Mängel, die die Fan-Hilfe kritisiert, zeigt sich Schneider offen und entspannt. „Ich kann verstehen, dass man sich über Maßnahmen ärgert. Aber es ist nun mal so, dass es sonst zu Ausschreitungen kommt. Diese Regulierungen muss es geben, damit es im Rahmen bleibt. Das Bedürfnis nach Sicherheit für die Allgemeinheit steht in diesem Kontext über den Freiheiten der Fans.“ Zwar seien einige Maßnahmen durchaus rigoros, wie etwa die fehlende Getränkeversorgung bei Einkesselungen, doch grundsätzlich wüsste man nie, was passiert, wenn man die Personen aus dem Kessel lässt.
Den Einsatz von Videokameras in Stadien sieht der SPD-Politiker als Vorteil für alle Seiten. Schließlich könnten diese bei der Aufklärung von Situationen helfen – es wäre eine Art der „Waffengleichheit“. Für Schneider sind diese Maßnahmen zudem eine logische Konsequenz für das Handeln der Fangruppierungen: „Das ist alles eine Reaktion auf die Gewaltausübungen rund um Fußballstadien.“
Die Einschätzung, dass Fußballfans „Menschen zweiter Klasse“ seien oder unter Generalverdacht stünden, teilt der Landtagsabgeordnete nicht. „In der Realität ist es so, dass sich Fußballfans viele Rechte rausnehmen, die sonst keiner hat. Beispielsweise trinken sie Bier in der Bahn oder beleidigen andere. Darüber wird in diesem Kontext sogar oft hinweggeguckt und es wird nicht geahndet. Diesbezüglich ist die Analyse ´Mensch zweiter Klasse´ schwierig.“ Dass sich alle Fans dem gleichen Prozedere unterziehen müssen, gibt Schneider zu, allerdings hat er das Gefühl, dass zwischen den Fans unterschieden wird. Bewertungskriterien laut Schneider dafür: Verhalten und Orientierung. „Klar ist, dass man im Rahmen eines Fußballspiels anders kontrolliert wird, als es im öffentlichen Raum üblich ist. Ich kann zwar verstehen, dass es nervt. Aber auch hier ist das Sicherheitsinteresse der anderen größer“, erklärt er.
Das Thema Polizeigewalt kommentierte Schneider knapp, aber nicht ausweichend: „Im Rahmen der Möglichkeiten läuft das ganz ausgewogen. Die Polizei ist sicherlich nicht fehlerfrei, aber wer ist das schon. Der Deeskalationskurs der niedersächsischen Polizei war mit Sicherheit schon ein Erfolg.“ Zur Wahrheit gehöre aber auch, dass bei weniger Fan-Gewalt auch die Maßnahmen zurückgehen könnten. „Bei kleinen Organisationen funktioniert das auch. Da gibt es weniger Kontrollen und weniger Schläge drauf.“ Bei großen Fangruppierungen gestalte sich dieser Prozess allerdings schwieriger, doch auch diese müssen für ihre Vergehen geradestehen. „Sie müssen die Verantwortung für ihr eigenes Handeln übernehmen“, fordert Schneider.
Fan-Gruppierungen sind „wertvolle Jugendarbeit“
Besonders ärgert Schneider, dass der positiven Seite der Fangruppierungen wenig Beachtung geschenkt wird. „Es geht total unter, dass die Ultrakultur die größte Jugendkultur in Deutschland ist. Kaum etwas zieht junge Menschen so an. Das geht in der Gewalt-Debatte leider unter.“ Laut dem Abgeordneten sollte Deutschland sich glücklich schätzen eine der aktivsten Kulturen international zu haben. „Das kann sich definitiv sehen lassen“, lobt er. In den anarchistischen Strukturen können Jugendliche wichtige Gruppenstrukturen, demokratische Prozesse und Eigenverantwortung lernen. „Dabei ist es positiv, dass die Gruppierungen politisch sind. Beispielsweise die linke Gruppierung von Chemie Leipzig, die jungen Menschen einen Rückzugsraum in tendenziell eher rechten Strukturen im Osten gibt.“ Fan-Gruppierungen und Ultrakultur regten außerdem kritisches Denken und Charakterbildung an. „Fanszenen können Jugendliche positiv beeinflussen und sind deshalb wertvolle Jugendarbeit“, betont Schneider.
Um die Meinungsfreiheit der jungen Menschen in diesem Kontext möglichst unangetastet zu lassen, ist der SPD-Politiker zudem gewillt, der Jugend etwas mehr zu billigen. Im Klartext: Solange alles im Rahmen bleibt, rät der Politiker zu großen Freiheiten. Beispielsweise beim Thema provokante Banner mit Aufschriften wie ACAB (Kurzform für: All Cops are Bastards). „Mit Provokationen erreichst du mehr Aufmerksamkeit und das ist auch okay. Es ist vollkommen in Ordnung, wenn draufgehauen wird, allerdings hört es bei Gewaltaufforderungen auf.“ Als Beispiel nennt Schneider die Darstellung der niedersächsischen Innenministerin Daniela Behrens oder Dietmar Hopp, dem Märzen des Bundesligisten TSG Hoffenheim, im Fadenkreuz. „Ansonsten darf es auch mal darüber hinausschießen und provozieren“, ergänzt Schneider
Fan-Hilfe wünscht sich Mitspracherecht – Politik ernsthaften Dialog
Auch wenn zwischen Politik, Fans und den dazugehörigen Instanzen ein tiefer Graben nicht abzustreiten ist, verfolgen grundsätzlich alle dasselbe Ziel: Ein friedlicher Stadionbesuch, die Lieblingsmannschaft siegen zu sehen und den deutschen Fußball wieder in einem besseren Licht zu präsentieren.
Eine Grundvoraussetzung dafür: Kommunikation zwischen den Parteien. Beide Interview-Partner sind sich diesem Umstand bewusst und ebenfalls gewillt dazu. Harald Habekost fordert die öffentlichen Entscheidungsträger zu einem konkreten Dialog auf: „Wir sind dazu bereit und bieten unsere konstruktive Mitarbeit an. Eine Politik mit der Brechstange führt nur zu Frustration und Kostenexplosionen, die für niemanden einen Nutzen entfalten.“ Der SPD-Abgeordnete Julius Schneider wünscht sich eine Gesprächsbereitschaft von allen Seiten, die allerdings auch die nötige Ernsthaftigkeit aller erfährt. „Ich wünsche mir, dass wir im Dialog bleiben, damit sich die Jugendkultur weiter friedlich austoben kann. Beide Parteien müssen dafür aber offen sein und eine große Frustrationsbereitschaft mitbringen.“ Besonders wichtig sei es in seinen Augen zu bedenken, dass der Dialog mit Fangruppierungen keine „klassische Verhandlung“ sei. „Wir haben die Problematik, dass es in dieser anarchistischen Organisation keinen Vorsitzenden gibt. Das verstehen aber viele meiner Kollegen nicht. Wir müssen im Dialog bleiben und versuchen Deeskalationsprozesse einzuleiten“, so Schneider.
Die Debatte „Fanfreiheit“ hat also noch lange kein Ende – im Gegenteil: Neue Eskalationen werden dieses Thema nur verschärfen. Es bedarf schneller Lösungen und einen ständigen Austausch, um eine ausgewogene Lösung zu finden und den Balanceakt zwischen Fanfreiheit und Sicherheit zu meistern.
Titelbild: Choreographie der Fanszene des HSV, Foto von Henri Klein