Ilses Weg – Flucht als Kleinkind

1945 musste die damals dreijährige Ilse fliehen. Die Heimat hinter sich lassen, in einem neuen Land ankommen. Hier erzählt sie wie es war, als der Rucksack mit der liebsten Puppe zu schwer wurde.

Zum Ende des Zweiten Weltkrieges und dem Zerfall des dritten Reichs waren schätzungsweise 18 Millionen Deutsche auf der Flucht. Vor allem aus den ehemaligen deutschen Gebieten im Osten, dem heutigen Polen, Ungarn und Tschechien, mussten viele ihre einstige Heimat verlassen. So gerieten die flüchtenden Menschen zwischen die Fronten. Auf der einen Seite die sich immer weiter zurückziehenden Wehrmachtssoldaten, die dabei Leid und Zerstörung in den Dörfern hinterließen und auf der anderen die SoldatInnen der Roten Armee. Ilse erzählt, wie es war, im Alter von drei Jahren fliehen zu müssen, in einem neuen Land richtig anzukommen und welche Erfahrungen sie dabei gemacht hat.

1945: Ilses Flucht aus Danzig nach Spittal an der Drau

Ilse, geboren im Februar 1942, musste zum Ende des Zweiten Weltkrieges aus ihrer Heimat Danzig in Polen fliehen. Die Flucht beginnt Anfang Januar 1945 am Bahnhof in Danzig, verläuft über München und endet mit vielen Stopps durch Luftangriffe vorerst in einem Lager in Spittal an der Drau in Österreich. Viele Erinnerungen hat Ilse nicht mehr an die Flucht. Dennoch haben sich einige wenige schwerwiegende Ereignisse eingebrannt. Im Zug verschwand ihr gerade einmal eineinhalb Jahre alter Bruder. Ihre Mutter musste Ilse im Abteil alleine sitzen lassen, um ihn zu suchen. Ihren Bruder konnte Ilses Mutter glücklicherweise wohlauf wiederfinden. Aufgrund der vielen und schweren Luftangriffe musste der Zug regelmäßig aus den Bahnhöfen fahren und auf freier Strecke anhalten. „Als wir umsteigen mussten“, erzählt Ilse, „nahm ich die Träger meines kleinen Rucksacks von den Schultern, weil diese zu schwer für mich wurden. Dann hieß es plötzlich alle müssen wieder einsteigen und so blieb mein Rucksack mit meiner Puppe am Bahnhof zurück. Danach habe ich nie wieder eine Puppe besessen.“
Österreich, 1945. Der Zweite Weltkrieg zeichnete auch hier die Bevölkerung. Luftangriffe standen, nach dem Waffenstillstand zwischen Italien und den Alliierten am 8. September 1943, auf der Tagesordnung. Zuvor war Österreich weitgehend verschont geblieben. Bis 1955 war auch Österreich zwischen den vier Siegermächten USA, Großbritannien, Frankreich und der UdSSR aufgeteilt. Zudem waren über 86.000 Wohnungen zerstört oder unbewohnbar. Ilse beschrieb, dass es auf dem Land kaum bis gar keine zerstörten Häuser gab. In Wien oder durch Industrie geprägte Orte war die Zerstörung größer und viel schwerwiegender. Auch Österreich profitierte vom sogenannten Marshallplan, den die USA ins Leben riefen. Aber nicht nur die materielle Zerstörung, auch die psychische Zerstörung war enorm. Viele Familien wurden durch den Krieg und den sich langsam aufbauenden Kalten Krieg nie wieder vereint oder nach kurzer Zusammenführung wieder auseinandergerissen. Etwa 1,2 Millionen Österreicher zogen für Hitler mit der deutschen Wehrmacht in den Krieg.

Der Marshallplan

Benannt wurde der Plan nach seinem Entwickler dem US-Außenminister Marshall. Das Aufbauprogramm wurde 1948 gebilligt mit einer Laufzeit von vier Jahren und sollte für alle Länder die am zweiten Weltkrieg beteiligt waren gelten, die UdSSR lehnte den Marshallplan ab. Das Hauptziel des Plans war es die Lage der europäischen Länder zu verbessern und ein funktionierendes Wirtschaftssystem aufzubauen. Unter anderem wurde vom Plan die Eindämmung des Kommunismus gewünscht. Außerdem wollten die USA ihre wichtigsten Absatzmärkte stärken und diese lagen in Europa.

Ende Januar 1945 im tiefsten Winter kam Ilse mit ihrem Bruder und ihrer Mutter in Spittal an der Drau in Österreich an. Vorerst bewohnten sie zusammen eine Baracke. Da Ilses Vater Österreicher war und Familie in Kärnten hatte, nahm ihre Mutter Kontakt zu den Verwandten auf. Durch die erfolgreiche Kontaktaufnahme hieß die nächste Station St. Leonhard. Ihr Vater floh im Juni 1945 aus einem Kriegsgefangenenlager in Spittal an der Drau. Nachdem Ilses Vater zurückkehrte, zog die Familie noch im Jahr 1945 nach St. Salvator, einem Vorort von Kärnten. „Hier lebten wir dann auf dem Gut Mayerhofen.“ Im September 1947 wurde Ilse in Sankt Salvator eingeschult. Der Fußmarsch zur Schule betrug eine Stunde, sie erzählt, wieso: „Meine Eltern hatten kein Geld für ein Auto oder Fahrrad“. Ilse ging diesen Weg meistens allein, da ihr Bruder nicht die gleiche Schule besuchte. Auch im Winter musste der Schulweg gemeistert werden, „In Österreich herrschte ein ganz anderes Klima als in Danzig. In den Wintermonaten lag immer sehr viel Schnee“, beschreibt Ilse. Ihr Vater arbeitete in einer Gärtnerei und 1950 eröffnete er mit seiner Frau einen Blumen- und Gemüseladen in einem anderen Teil von Friesach. Ab 1950 wohnte die Familie in Grafendorf. „In einer Baracke ohne elektrisches Licht“, schildert Ilse. In Grafendorf und den anderen Orten, in denen Ilse lebte, habe sie keine negativen Erfahrungen mit ihren Mitmenschen machen müssen. Sie sagte, sie könne sich dies unter anderem so erklären, da ihr Vater Österreicher war und den Dialekt sprach, kam es zu keiner Zeit zu Auseinandersetzungen oder Ähnlichem.

1955: Der Weg führt nach Braunschweig

Doch wieso Österreich verlassen, um noch einmal von null in Braunschweig zu beginnen? Ilse erklärt den Grund: „Mein Vater wollte meinem Bruder und mir eine bessere Ausbildung ermöglichen, in Österreich auf dem Land gab es kaum Lehrstellen“. Da Ilses Mutter Verwandte in der Lüneburger Heide hatte und Braunschweig die nahegelegenste größere Stadt war, zogen sie 1955 nach Braunschweig. „Zuerst fuhr meine Mutter alleine nach Braunschweig, um eine Wohnung zu finden, dann zogen wir nach“, in eine Zwei-Zimmer-Wohnung mit fünf Personen in Braunschweig am Neustadtring. Ilse erzählt: „Meine Eltern mussten in Österreich alles zurücklassen und verkaufen.“ Dennoch fehlte das Geld für ausreichend viele Betten. So teilten sie sich zu fünft ein Bett, bis irgendwann genug Geld da war um ein Klappbett und ein einfaches Sofa zu kaufen. „Weihnachten 1955 war das traurigste Weihnachten, dass wir je gefeiert haben“, erinnert sich Ilse. Sie hatten weder einen Weihnachtsbaum oder Weihnachtsdekoration, geschweige denn Geschenke. „Wir bekamen nicht einmal Süßigkeiten, da meine Eltern kein Geld für solche Dinge hatten.“, sagt Ilse verständnisvoll. In Braunschweig Anschluss zu finden, fiel Ilse und ihrem Bruder sehr schwer. Die große Stadt schüchterte sie ein, die vielen Autos waren ungewohnt und der Kontrast zum Dorf in Österreich war sehr groß. „Mein Bruder und ich nahmen uns an die Hand, er elf und ich 13. Hand in Hand erkundeten wir Stück für Stück Braunschweig.“ Zudem sei es ihr in der Schule schwer gefallen neue Freunde zu finden, da sie mit Dialekt sprach. Durch diese Erfahrung mit ihren KlassenkameradInnen legte sie schnell ihren Dialekt ab und sprach Hochdeutsch, „außer wenn ich in Österreich war, da habe ich immer mit Dialekt gesprochen“. Nach ihrer Schulzeit begann Ilse eine Lehre als Verkäuferin im Reformhaus bei Udo Landmann. Im Anschluss an die dreijährige Lehre und der erfolgreichen Abschlussprüfung, arbeitete sie von nun an bei der Post in der Cafeteria. Ilse hat zwar ihre alte Heimat verloren, aber in Braunschweig ihre neue Heimat gefunden. Der Weg hierhin war ein langer und schwerer. Österreich hat sie auch in Braunschweig sehr vermisst, daraus macht sie kein Geheimnis. Den Strapazen und Tränen zum Trotz heiratete sie 1962 glücklich, bekam 1966 ihre Zwillinge und 1971 noch ihren Sohn – damit war Ilses kleine eigene Familie komplett.
Ilse spricht über diese Zeit und gewährt einen Eindruck, wie es gewesen sein muss, im Januar 1945 zu fliehen und irgendwo endlich anzukommen. Zwischen Flucht und Ankommen.

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