Ambulante Pflegekraft – Keine Zeit für Zwischenmenschlichkeit

Zu viele PatientInnen für zu wenig Pflegekräfte. Ambulante Pflegekräfte stehen unter ständigem Druck mit dieser Herausforderung klarzukommen. Unsere Autorin Emily hat einen Tag lang eine ambulante Pflegekraft bei ihrer Arbeit begleitet.

4.15 Uhr, der Wecker klingelt. Wie jeden Morgen macht sich Anja Hinze fertig für die Arbeit. Arbeitskleidung anziehen, frühstücken, Schlüssel zusammensuchen, losfahren. Um 5.30 Uhr beginnt die Frühschicht der Diakoniestation in einem Dorf in der Nähe von Peine. Vor Ort muss alles reibungslos laufen, damit pünktlich um 6.00 Uhr die ersten PatientInnen versorgt werden können.
Anja ist eine der ersten im Büro. Sie bereitet die acht Tagestouren vor, Schlüssel und erforderliche Dokumente liegen bereit. Durch ihre Position als stellvertretende Pflegedienstleitung ist Anja für einen Großteil der Organisation innerhalb der Diakoniestation verantwortlich. Zu den PatientInnen fährt sie nicht täglich, kümmert sich dafür aber um die anfallende Büroarbeit – Touren für den nächsten Tag planen, Termine für Neuaufnahmen vereinbaren, Verordnungen von den ÄrztInnen prüfen und Beratungsgespräche oder Gespräche mit den MitarbeiterInnen führen.
Dieser Tag beginnt für Anja jedoch mit einer Tour.

Es ist 5.50 Uhr, als sie sich auf den Weg zu ihrem ersten Patienten macht. Auf ihrem Diensthandy befinden sich der tagesaktuelle Tourenplan, sowie relevante Patienteninformationen. Noch ist sie im Zeitplan, doch sobald sie den ersten Patienten erreicht, steigt der Druck. Mundschutz auf, Hände desinfizieren und rein zum Patienten. Während der kurzen Begrüßung sucht Anja die benötigten Hilfsmittel zusammen. Acht Minuten zum Anlegen von Kompressionsverbänden, sechs Minuten, um Kompressionsstrümpfe anzuziehen und gerade einmal drei Minuten, um notwendige Medikamente herzurichten und diese zu verabreichen. Kaum einhaltbare Zeitvorgaben. Auch die PatientInnen merken den zeitlichen Druck. Verzögerungen bei einem Patienten wirken sich auf die gesamte, eng getaktete Tour aus, da die überschrittene Zeit nicht mehr eingeholt werden kann.

Um 6.15 Uhr geht es weiter zum nächsten Patienten. Dieser wartet schon auf seine Pflegekraft. Anja hat bereits alle benötigten Materialien zusammengesucht – Blutzuckermessgerät, Kompressionsstrümpfe und notwendige Medikamente. In den Wohnungen der PatientInnen kennt sie sich aus, wodurch der Besuch routiniert abläuft. Begrüßen, kurzes Erkundigen nach dem allgemeinen Zustand, Blutzucker messen, Kompressionsstrümpfe anziehen, Medikamente anreichen. Für persönliche Gespräche bleibt meistens keine Zeit. Dabei ist die Pflegekraft oftmals der einzige soziale Kontakt, besonders in der derzeitigen Situation. Manchmal, wenn es die Zeit erlaubt, nimmt Anja sich einen Moment und setzt sich zu den PatientInnen. Sie erzählen von Erlebtem und ihren Sorgen. Für einen kurzen Moment kann Anja das genießen, was sie an ihrem Job so liebt – die Nähe zu den PatientInnen und die persönliche Atmosphäre.
Diese Momente sind selten, Anja muss weiter. Mittlerweile ist es 9.30 Uhr, sie ist etwas im Verzug. Der Zeitdruck steigt. Nicht nur, weil jede überschüssige Minute sich auf die folgenden PatientInnen auswirkt – verlorene Zeit bedeutet unbezahlte Arbeit. Die Krankenkasse zahlt, jedoch berechnet sie das absolute Minimum an Zeit für die jeweiligen Tätigkeiten.

Je nach Pflegegrad stehen den PatientInnen verschiedene ambulante Pflegesachleistungen zu. Darunter fallen körperbezogene Pflegemaßnahmen wie Ganzkörperwaschung, Hilfe beim Ankleiden oder der Nahrungsaufnahme. Darüber hinaus pflegerische Betreuungsmaßnahmen sowie die Unterstützung im Haushalt. Vor der Aufnahme müssen die Pflegebedürftigen einen Antrag auf Erhalt eines Pflegegrads bei dem Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) stellen. Pflegedienstleistungen erhalten die PatientInnen erst ab Pflegegrad 2. Diese staffeln sich von 689 Euro bei Pflegegrad 2 bis zu 1.995 Euro monatlich bei Pflegegrad 5. Diese Kosten übernehmen  die Pflegekassen, welche ein Teil der Krankenkassen sind. Letztere geben auch die Zeitvorgaben der Behandlungspflege vor.

Um 11.00 Uhr fährt Anja zu ihrer letzten Patientin. Im Vorfeld wurde eine „Pflege nach Zeit“ vertraglich vereinbart. Zu Beginn der Aufnahme wird ein Pflegevertrag aufgesetzt, welcher den Umfang der Versorgung, sowie den Termin des Besuchs festlegt. „Pflege nach Zeit“ ist durch die individuelle Berücksichtigung der Patientenwünsche für Anja eine willkommene Alternative. Hierbei können PatientInnen einzelne Leistungen buchen, die von den Pflegekräften durchgeführt werden. Anja holt ihr Diensthandy raus und startet die Stoppuhr. Feste Zeitvorgaben gibt es auch bei der „Pflege nach Zeit“. Keine Minute darf vergeudet werden. Die Patientin möchte geduscht werden. Hierfür hat Anja 18 Minuten – auskleiden, duschen, abtrocknen, eincremen, anziehen und die Patientin in ein anderes Zimmer begleiten. Innerhalb von sechs Minuten werden die Haare gekämmt und geföhnt. Zehn Minuten hat Anja, um das Bett zu machen und das Mittagessen anzureichen. Die Uhr stoppt 35 Minuten: Zeit, um sich zu verabschieden. 11.35 Uhr. Hände desinfizieren, Mundschutz abnehmen. Sie atmet tief durch und tritt den Rückweg zur Diakoniestation an.

Dort angekommen geht es mit der Büroarbeit weiter. Unteranderem plant sie die morgigen Touren. Mithilfe des Computersystems werden sie auf die Diensthandys der jeweiligen Pflegekräfte geleitet. Zweimal jährlich benötigen PatientInnen mit Pflegegrad einen Beratungsbesuch. Hierfür vereinbart Anja Termine und plant diese. 13.30 Uhr, Feierabend. Nicht immer kommt sie pünktlich raus.
An manchen Tagen hat Anja Palliativ-Dienst. In der Palliativpflege werden Menschen mit schweren, nicht heilbaren Krankheiten betreut und gepflegt. Für Anja einer der schönsten Aspekte ihres Jobs – Menschen helfen und bis zu ihrem Tode in der Geborgenheit des vertrauten Heims zu begleiten. An diesen Tagen nimmt sich Anja nach der Arbeit ein Diensthandy mit nach Hause, damit KollegInnen sie bei Notfällen, sowie Fragen bezüglich der Patientenpflege kontaktieren können. Diese Tage muss Anja so planen, dass sie jederzeit zu den PatientInnen fahren kann.

Manchmal, so erzählt Anja, müssen Doppelschichten gefahren werden. Ausreichend MitarbeiterInnen sind nicht immer gegeben. So müssen Pflegekräfte, welche bereits die Frühschicht hatten, von 16.30 Uhr bis 20.00 Uhr in der Spätschicht einspringen. Anja wünscht sich mehr KollegInnen, um die Arbeit besser zu verteilen. 30 Pflegekräfte für 230 PatienInnen sind einfach zu wenig. Die PflegerInnen arbeiten unter Anspannung, wobei nicht nur die Aufgabenlast zu Buche schlägt, sondern auch Zeitdruck sich dem Personalmangel untermischt. Zeitdruck, dem die Pflegekassen ein Ende setzen könnten. Denn gerade Zeit ist eines der größten Geschenke für die PatientInnen. Zeit, in der sie sich austauschen können.
Heute ist Anja um 14.00 Uhr zu Hause. Raus aus der Dienstkleidung, Hände waschen, Kaffee kochen. Ihren Feierabend verbringt sie zum Ausgleich gerne in ihrem Garten. Das lenkt sie vom stressigen Arbeitsalltag ab und lässt sie für einige Momente vergessen, dass morgen um 4.15 Uhr der Wecker klingelt und die Arbeit von vorne beginnt.

 

Pflege in Zahlen

Mindestlohn laut Bundesverband privater Anbieter sozialer Dienste (bpa): 

Ungelernte Pflegehilfskraft (ab 01.09.2021)  
12,00 €

Qualifizierte Pflegehilfskräfte (ab 01.09.2021)
12,50 €

Examinierte Pflegefachkraft (ab 01.07.2021)
15,00 €

Anzahl ambulante Pflegedienste in Deutschland:
14.688 (Stand: 2019)

Anzahl Pflegebedürftige in Deutschland:
4,13 Millionen (Stand: 2019)

Pflegesachleistung (pro Monat): 
Pflegegrad 1 – keine Leistungen
Pflegegrad 2 –    689 €
Pflegegrad 3 – 1.298 €
Pflegegrad 4 – 1.612 €
Pflegegrad 5 – 1.995 €

Total
0
Shares
Ähnliche Beiträge
Mehr lesen

Gesichtsblind – Wenn man keine Unterschiede erkennt

Die 30-jährige Viktoria leidet unter Gesichtsblindheit, eine Erkrankung von der rund zwei Millionen Menschen in Deutschland betroffen sind. Symptom der Krankheit ist das Unvermögen, Gesichter zu erkennen, sodass Betroffene oft nicht einmal ihre eigene Familie oder Freunde auf der Straße wiedererkennen.
VON Charline Borchers
Mehr lesen

Gendern: Gaga oder Gleichberechtigung?

Die Debatte um gendergerechte Sprache wird seit einiger Zeit sehr emotional diskutiert. Kaum ein sprachliches Thema hat bisher so polarisiert. Gendern spaltet die Gesellschaft in zwei Lager: die BefürworterInnen und die GegnerInnen. Doch warum eigentlich und worum geht es dabei?
VON Leonie Gehrke
Mehr lesen

Das gelbe Problem mit dem grünen Gold

Seit Jahren muss sich die deutsche Drogenpolitik vorwerfen lassen, ihr Ziel zu verfehlen. Im Bundestagswahlkampf versprach unter anderem die FDP eine Kehrtwende im Repressionskurs gegenüber Cannabis-KonsumentInnen. Was haben die Liberalen seitdem dafür getan?
VON Malte Wilken