Die 22-jährige Anastasia ist auf dem Weg nach Hause. Plötzlich spürt sie, wie jemand sie antippt. Sie nimmt ihre Kopfhörer ab, und dreht sich um. Da steht ein Mann. Fragend hebt sie die Brauen. „Ich wollte nur sagen, dass ich dich sehr hübsch finde. Wie heißt du denn?“, fragt er. „Danke für das Kompliment. Ich heiße Anastasia, habe aber einen Freund“ sagt sie ausweichend. „Ach so, okay. Aber dir einen schönen Abend noch.“ Er wendet sich ab. „Danke. Dir auch.“ Ein bisschen erleichtert setzt sie die Kopfhörer wieder auf. Aus Erfahrung weiß sie, dass sich nicht alle Männer so leicht abwimmeln lassen. Aber das war ja mal ein gutes Gespräch.
Anastasia setzt ihren Weg nach Hause fort. Nach etwa 20 Minuten hört sie jemanden hinter sich rufen. Zunächst ignoriert sie den Mann, der immer schneller auf sie zugelaufen kommt, bis sie ihn aus dem Augenwinkel wieder erkennt. Es ist derselbe Mann wie vorhin. „Hey warte! Ich laufe dir schon voll lange hinterher, aber du hast mich nicht gehört. Was machst du denn jetzt noch?“ fragt er. „Ich fahre zu meinem Freund“ sagt sie. „Ach. Komm doch lieber mit mir ‚ne Shisha rauchen.“ Fordernd schaut er sie an. Ein bisschen genervt sagt sie: „Ich gehe jetzt bestimmt nicht mit einem fremden Mann eine Shisha rauchen.“ Doch er ignoriert ihre Worte. „Irgendwie glaube ich dir nicht, dass du vergeben bist. Zeig mal deinen Freund. Mein Kollege sagt immer, die schönen Frauen werden nie angesprochen, weil sich niemand traut und deshalb sind sie alle einsam.“ Anastasia geht weiter. Will endlich weg von ihm. Doch er läuft weiter neben ihr her. „Ich bin nicht einsam“ sagt sie „Ich habe einen Freund und ich muss dir das auch nicht beweisen.“ Sie merkt wie die Anspannung in ihr wächst. „Jetzt komm schon“ sagt er und legt ihr die Hand auf die Schulter. Sie zuckt reflexartig zusammen. Er grinst und schaut ihr in die Augen, „Wir beide hätten doch bestimmt ‘ne Menge Spaß.“ Bevor Anastasia etwas erwidern kann, kommen zwei junge Männer an ihre Seite und sagen dem Mann, er solle sie jetzt endlich in Ruhe lassen. Daraufhin spuckt er auf den Boden und ist weg. Man möchte es kaum glauben, aber solche und schlimmere Situationen, wie sie Anastasia erlebt hat, passieren hier in Deutschland täglich auf der Straße.
Diese Form von verbaler sexueller Belästigung, für die der englische Begriff „Catcalling“ verwendet wird, schneller auf sie zugelaufen kommt, bis sie ihn aus ist in unserer Gesellschaft fest verankert und besonders für viele junge Frauen längst Bestandteil des Alltags. Aber natürlich sind auch Männer, unter ihnen besonders Vertreter der LGBTQ-Community, und diverse Personen nicht von Catcalling ausgeschlossen. Unter dem Begriff werden unter anderem herabwertende, sexuelle Sprüche, aufdringliche Blicke, penetrantes Hinterherlaufen oder Kussgeräusche zusammengefasst. 2021 führte das Kriminologische Forschungsinstitut Niedersachsen eine Studie zum Thema Catcalling durch. Das Ergebnis: 90 % der befragten Frauen hatten schon Erfahrung mit Catcalling gemacht. Und obwohl Catcalling die häufigste Form von sexueller Belästigung ist, wird sie von vielen belächelt. Denn was soll ein Kommentar über die äußere Erscheinung schon in einem auslösen? Vielleicht freut sich die ein oder andere ja sogar über den Kommentar oder nimmt diesen als Kompliment hin. Und sowieso: Kann man als Mann heute überhaupt noch irgendetwas sagen, ohne dass es direkt als sexuelle Belästigung wahrgenommen wird? So oder ähnlich wird Catcalling wohl von den Belästigern verharmlost. Dass ihre Kommentare alles andere als ein Kompliment sind und ihre unbedachten Sprüche ernste Folgen nach sich ziehen – daran denken wohl die Wenigsten. Muskelverspannungen, Schwindel und Atembeschwerden sind nur einige der vermehrt auftretenden physischen Beschwerden. Doch besonders leidet die Psyche unter der ständigen Sexualisierung. Viele Betroffene geben an, aus Angst vor einer Belästigung ihren Weg nach Hause ändern zu müssen, oder einfach nicht mehr rausgehen wollen, sobald es dunkel wird. Opfer von Catcalling sind auch anfälliger für chronische Angstzustände, Essstörungen und Depressionen. Die Erfahrungen mit den Belästigern sitzen nämlich tief. Und das auch oft noch Jahre später.
So auch bei der 22-jährigen Linda aus Braunschweig. An ihre erste Erfahrung mit Catcalling denkt die Studentin nämlich bis heute noch oft zurück. Sie war damals erst neun Jahre alt und auf dem Weg nachhause durch den Prinzenpark gelaufen. Dort kam sie an einer Gruppe Männer vorbei, die sie sexuell anguckten und ihr aufdringlich hinterherpfiffen. Mittlerweile kann die 22-jährige, genau wie viele andere Frauen in ihrem Alter, von vielen solchen Momenten erzählen. Momente, einer ekliger als der andere. „Es ist einfach krass, wie absolut normalisiert es ist, dass man ständig auf der Straße objektifiziert und sexualisiert wird“, erzählt sie „Es ist schließlich psychische Gewalt und es sollte niemals normal sein, dass fast jede Frau auch schon als Kind damit in Berührung kommt. Ich wurde mittlerweile schon so oft gecatcallt und weiß, dass es bei all meinen Freundinnen nicht anders ist. Wir müssen uns täglich in schreckliche, unangenehme und ekelhafte Situationen begeben und es wird nichts dagegen getan. Als wäre es kein Problem. Es wird einfach erwartet, dass wir alleine damit fertigwerden oder uns daran gewöhnen. Es sollte doch nicht normal sein, dass ich immer Angst habe, an einem Mann vorbei zu gehen, sobald es dunkel wird.“ Besonders erschreckend findet sie es, wie die Täter ihr Verhalten verharmlosen. „Es ist einfach so krass, wie Typen dann so sagen: ‚Man kann heutzutage gar keine Komplimente mehr geben ohne, dass das dann direkt als sexuelle Belästigung wahrgenommen wird‘, wo ich mir so denke: ‚Geiler Arsch, Puppe‘, ist kein Kompliment.“ Tauscht man sich mit den Betroffenen über die vielen, ekelhaften Catcalling- Geschichten aus, fällt es schwer zu glauben, dass dieses Thema in der Gesellschaft so untergeht. Darf verbale sexuelle Belästigung in dem Maße wie es Anastasia, Linda und zahlreiche andere jeden Tag erfahren, normal sein? Gibt es überhaupt jemals eine Situation, in der verbale sexuelle Belästigung gerechtfertigt sein kann und nicht als strafbar eingestuft werden sollte? Natürlich nicht.
Aber so ist es eben bei Catcalling. Viele schauen weg, oder sehen das Problem gar nicht. Von den Betroffenen wird erwartet, dass sie es so hinnehmen. Oder warum nicht einfach ein Pfefferspray einpacken? Die Männer meinen es ja nicht böse. Was ziehen die Frauen im Sommer bei über 30 Grad aber auch wenig an. Da sind sie ja eigentlich selbst schuld, oder? Nein, natürlich nicht. Eigentlich sollte man annehmen, dass die Täter selbst merken, wie absolut schwachsinnig ihre Begründungen klingen. Ein Kleidungsstück darf nicht zur Rechtfertigung sexueller Belästigung werden. Da kann Deutschland in Sachen Catcalling noch einiges lernen. Denn wenn die Täter nicht von selbst mit der ständigen Sexualisierung aufhören, muss eben der Staat eingreifen. So wie in Frankreich, Portugal und Belgien. Dort wird Catcalling bereits mit Geldbußen bestraft. Aber warum nicht in Deutschland? Vor drei Jahren startete die Studentin Antonia Quell in Deutschland eine Petition unter dem Namen: „Es ist 2020. Catcalling sollte strafbar sein“ und trotz fast 70.000 Unterschriften ist nichts daraus geworden. Drei Jahre später bleibt Deutschland dabei: Sexuelle Belästigung fängt mit einer physischen Berührung an, alles davor kann höchstens als Beleidigung eingestuft werden. Beleidigungen können sich natürlich auch tief setzen, aber die Art wie Catcalling die Psyche angreift und der Fakt, dass es ein so omnipräsentes Problem in der Gesellschaft ist, sollte eigentlich Grund genug sein, härter dagegen vorzugehen. Für die Menschen, die noch nie Erfahrungen mit dieser Art der ständigen Sexualisierung gemacht haben, ist es oft nicht nachvollziehbar, wie sich die Betroffenen in so einer Situation fühlen. Aber ständig abwertende oder aufdringliche Kommentare von Menschen, die es sich einfach herausnehmen über Geschlecht, Kleidung oder sexuelle Orientierung zu urteilen, ohne dass sie im Geringsten ein Recht darauf haben, müssen bestraft werden.
Daher ist es wichtig, weiter über Catcalling und seine Folgen aufzuklären. Gerade viele Männer sehen oft nicht, wie sehr diese Form von sexueller Gewalt in unserer Gesellschaft verankert ist und, dass selbst ein nach außen harmlos erscheinender Kommentar, schwerwiegende Folgen mit sich trägt. Dabei sollten sich gerade die Menschen, die noch keine solche Erfahrungen machen mussten, bewusst sein, dass auch sie eine wichtige Rolle in der Bekämpfung einnehmen können. Sie können einen Dialog mit Belästigern aus der Freundesgruppe starten, aber auch den Opfern beistehen, sollte eine Tat beobachtet werden, wie bei Anastasia. Der erste Schritt zur Bekämpfung bleibt die Aufklärung und leider wissen immer noch viel zu wenig Menschen Bescheid, was sich jeden Tag auf den Straßen abspielt.
