Die Ankunft
Die Anfahrt führt durch das kleine, verschlafene Dörfchen Sorge, dessen Name den Kontrast zu seiner Idylle kaum deutlicher machen könnte. Dieses Dorf war einst untrennbar mit der Heilstätte verbunden, die seit 1967 verlassen steht. Die alten, von der Zeit gezeichneten Fachwerkhäuser und die engen Straßen lassen erahnen, welche immense Wirkung der Betrieb der Lungenheilanstalt auf das Dorf gehabt haben muss. Es war ein Ort, an dem Menschen zusammenkamen: Kranke, Pflegende, ÄrztInnen. Heute scheint es, als wären nur die Mauern geblieben, um diese Erinnerungen zu bewahren.
Klappernd wird das schäbige Tor geöffnet. Eine Frau mittleren Alters mit holländischem Akzent weist mit einer einladenden Geste auf das weitläufige Gelände der ehemaligen Heilstätte mitten im Oberharz. Der Ort liegt im Dornröschenschlaf – von der Zeit vergessen, abgeschieden und überwuchert von Pflanzen. Die Besitzerin des Geländes erklärt den angereisten Besuchern die Besonderheiten der Anlage. Sie besteht aus drei Hauptgebäuden: dem Wohnhaus des Oberarztes, einem Wirtschaftsgebäude und dem großen Klinikgebäude. Um die alten Gemäuer vor Vandalismus zu schützen, wird das Tor hinter den Besuchenden wieder verschlossen. Die Gebäude sollen noch möglichst lange ihre Geschichten bewahren, die von Zeiten erzählen, in denen der Ort noch voller Leben steckte.
Hier, wo einst Musik und Stimmen die hohen Decken füllten, beginnt die Geschichte im Jahr 1899. Werner von Seebach träumte von einem Ort der Heilung, einem Zufluchtsort für kranke Frauen. Der Betrieb lief viele Jahrzehnte lang erfolgreich, bis die Bezirksregierung Magdeburg die Nutzung zu diakonischen Zwecken 1967 beendete. Damit begann der langsame Verfall – ein Vergehen in Stille, das sich bis heute in jeder Wand widerspiegelt.
© Sandra Unger
Wo die Vergangenheit wohnt
Während wir dem verwilderten Pfad zum ersten Gebäude folgen, legt sich eine stille Erwartung über die Szenerie. Es ist, als würde jeder Schritt ein Stückchen weiter in die Zeit zurück führen - hinein in das Wohnhaus des Oberarztes. Hier bahnt sich auch die Natur langsam ihren Weg in die alten Gemäuer, die sich ihr völlig widerstandslos hingeben. Während das Laub unter den Füßen raschelt und der Wind durch die Äste rauscht, scheinen die Schritte der Vergangenheit wie ein Echo zurückzukehren.
Die Eingangstür steht weit offen und ermöglicht den Blick auf eine alte Eingangstreppe, deren Stufen teilweise völlig brüchig sind. Sofort steigt modriger Geruch von Zerfall in die Nase, der jetzt schon das Bild ankündigt, das sich später bei der Erkundigung der Räume offenbaren wird.
Die vorsichtigen Schritte auf den hölzernen Stufen lösen ein knarzendes Geräusch aus und erinnern sehr eindrücklich daran, genau zu schauen, wo man seinen Fuß hinsetzt. Auch im Dielenboden der ersten Ebene klafft ein riesiges Loch, und die Wände sind teilweise stark von Schimmel befallen. Dennoch lässt sich ohne Zweifel erkennen, wie schön und belebt dieses Zuhause einmal gewesen sein muss.





Die Tür in der zweiten Etage beklagt sich quietschend über ihren Zustand und enthüllt gleichzeitig ein paar Räume, die sich in einem deutlich besseren Zustand befinden. Es wirkt fast so, als könnte man mit ein wenig Renovierungsarbeit schon wieder einziehen.
Das Herz der Versorgung
Nachdem wir das Wohnhaus wieder verlassen haben, bahnt sich der Weg durch das hohe Gras und weiter vorbei an Farnen und auf laubbedeckten Wegen hin zum nächsten Gebäude der Trilogie. Die Natur scheint uns mit ihrem herbstlichen Farbspiel in ihren Bann ziehen zu wollen. Während das Laub unter den Schuhen raschelt und der Wind fortwährend durch die Äste der Nadelbäume zieht, taucht am Ende des Weges ein großes Haus in schwarzer Holzfassade auf. Große weiße Fenster bilden einen angenehmen Kontrast zur dunklen Fassade.
Dieses Gebäude war das Zentrum der Versorgung. Dort wurden Lebensmittel gelagert, Wäsche gewaschen und Personalunterkünfte bereitgestellt. Die Infrastruktur der Heilanstalt hing stark von diesem Gebäude ab.Auch wenn sich der Verfall dort an den Wänden und Böden des Hauses deutlich bemerkbar macht, wirkt dieses Gebäude durch seine massive Bauweise noch relativ gut in Schuss. Der steinerne Boden ist von Staub und Tapetenresten bedeckt. An den Wänden kommt unter dem bröckelnden Putz das Mauerwerk zum Vorschein. Lange Flure führen zu lichtdurchfluteten Zimmern. Eines davon sticht besonders ins Auge: Ein großer Raum, geteilt durch eine Holzfalttür mit Metallstreben. Der linke Teil des Raumes wird geprägt von einem kleinen Anbau, der wie ein Wintergarten sehr große Fenster hat, die die Blicke nach draußen auf die Natur lenken. Rechts im Anbau steht eine Holztür weit offen. Durch die zerschlagenen Fenster haben einige Pflanzen ihren Weg ins Innere gefunden und lassen die Architektur beinahe nahtlos in die umliegende Natur übergehen.
Ein paar Schritte weiter wandelt sich fast unmerklich die Atmosphäre. Die Zeit hat das Gebäude zwar gezeichnet, doch das Alltagsleben der vergangenen Jahrzehnte wird greifbar. In den Gängen des Wirtschaftsgebäudes sind noch die Spuren der täglichen Abläufe in der Heilanstalt zu erkennen. In einer Ecke steht ein alter Holztisch, mit verblassten Flecken, die von seinen vergangenen Nutzungen zeugen. Bilder von belebten Räumen, eilenden KrankenpflegerInnen und ÄrztInnen tauchen vor dem geistigen Auge auf. Und von PatientInnen, die all ihre Hoffnung auf Heilung in diesen Ort setzten.





Zwischen Medizin und Menschlichkeit
Doch ein Gefühl der Neugier zieht uns weiter – dorthin, wo das größte Geheimnis auf uns wartetet: das Hauptgebäude der Heilstätte. Riesige Fenster und Steinsäulen betonen die Anmut und laden zum letzten und größten Teil des Abenteuers ein.
Dieses Gebäude, einst Zentrum der medizinischen Versorgung, beherbergte die Behandlungsräume, Operationssäle und die Unterkünfte für bis zu 180 PatientInnen.
Sowohl die Fassade als auch das Dach scheinen den Witterungseinflüssen der letzten Jahre endgültig nachgeben zu haben . Durch kleinere Brände in den letzten Jahren sind Teile des Gebäudes nicht mehr zugänglich. Das Dach ist teilweise eingestürzt. Die ersten beiden Stockwerke sind jedoch kaum betroffen. Eine breite Treppe führt zu einem der Eingänge. Die Tür steht weit offen. Ein langer Gang ermöglicht den Zugang zu vielen kleineren Räumen.
Mit jedem Schritt in diesen Trakt wird die Vergangenheit greifbarer. Die feine Blumentapete in einem der Zimmer befindet sich noch in einem erstaunlich guten Zustand. Sie erinnert an eine gemütliche Einrichtung, die hier in vergangenen Jahren womöglich mancher Patientin oder manchem Patienten ein heimisches Gefühl vermittelte. Das Muster ist noch klar erkennbar, auch wenn die Farben langsam verblassen. Ein altes Sofa steht vor den großen Fenstern. Sehr einladend, als wolle es Geschichten erzählen, die es miterleben durfte.
Doch der Blick schweift weiter, fort vom Vertrauten hin zu den Spuren des Verfalls. Schutt und Scherben bedecken den Boden im Flur. Von der Decke hängen kaputte Stromkabel, teilweise ist noch die dunkle Holzvertäfelung an den Wänden zu sehen. Große, geschwungene Glastüren trennen die Flure voneinander. Ein alter Fahrstuhlschacht ist lediglich durch gelbes Absperrband gesichert. Ein altes Schild weist darauf hin, den Fahrstuhl nicht ohne Fahrstuhlführer zu nutzen.
Von Raum zu Raum wird immer deutlicher, wofür das Gebäude und all die Fläche einst gedacht war. Einige Räume sind an Wänden und Böden gefliest und haben große, lichtdurchlässige Fenster. Diese Räume wurden für medizinische Zwecke, insbesondere für Operationen genutzt. Andere wiederum sind kleiner gehalten, einfacher ausgestattet und dienten in belebten Zeiten als PatientInnenzimmer.
Es geht weiter über große, massive Treppen, die sowohl in den ausgebauten Keller als auch in die beiden Obergeschosse des Hauses führen. Die Metallgeländer sind noch funktionstüchtig. Im zweiten Stockwerk ist der Zustand schon deutlich schlechter. Scherben knirschen unter den Schuhen, die kaputten Fenster sorgen für einen starken Luftzug.
Am Ende des Flurs befindet sich ein großer Saal mit hohen Decken, an denen immer noch alte Kronleuchter hängen. Ein alter Parkettboden liegt unter der dicken Schmutzschicht und löst bei jedem Schritt ein knarrendes Geräusch aus. Vor ein paar Jahrzehnten wurden hier einige Feiern ausgetragen und so manch einer oder eine zum Tanz aufgefordert. Ausgelassenes Lachen und Musik ließen die Menschen hier wahrscheinlich für kurze Zeit ihre Sorgen vergessen.
Der große Raum verfügt zudem über eine eigene Küche. Sie ist komplett gefliest. Eine Durchreiche verbindet die beiden Räume miteinander.
Die alte Treppe führt noch weiter hoch in die dritte und letzte Etage. Durch große Löcher im Dach kann man den Himmel sehen. Der massive Verfall zeugt von der Vergänglichkeit und der Macht der Natur. Es macht den Eindruck als würde die Heilanstalt langsam aber sicher sterben. Völlig verwahrlost und sich selbst überlassen. Hilflos und einsam erinnert sie uns an alte Zeiten der Hoffnung und daran, dass alles irgendwann sein Ende findet.








Carpe Diem
In allen Facetten erzählt der Ort Geschichten aus der Vergangenheit, was dazu führt, dass BesuchernInnen ein Gefühl der Nostalgie beschleicht. Er mahnt uns, nicht zu vergessen, dass alles vergänglich und das Leben kurz ist. Umso wichtiger ist es, Lost Places wie diesem die letzte Ehre und den nötigen Respekt zu erweisen. Nicht zuletzt, damit dieses Abenteuer einer Zeitreise noch für möglichst viele Menschen erhalten bleibt.
Der Kiesweg, über den schon damals die PatientInnen gesund und vielleicht sogar glücklich ihre Koffer in Richtung Heimat zogen, führt auch heute noch regelmäßig die BesucherInnen dieses Ortes mit eindrucksvollen Erinnerungen zum Ausgang. Quietschend schließt sich das Tor der Johanniter-Heilstätte zum Abschied.
Info: Die Johanniter-Heilstätte befindet sich derzeit im Besitz einer Familie und kann gegen ein Trinkgeld völlig legal und auf eigene Gefahr besichtigt werden. |
Titelbild: Heilstädte, Sandra Unger u. Sophie Wehrstedt