Foto von Emily Buch

„Ich geh´ doch nicht ins Heim!“

Wohnen im Alter? Da ist mehr möglich als das klassische Pflegeheim. Immer mehr SeniorInnen wollen selbstständig bleiben und entscheiden sich für betreute Wohnanlagen. Ein Blick auf ihre Geschichten – und auf unsere alternde Gesellschaft.

Nur wenig Licht fällt an diesem grauen Morgen durch das verglaste Gebäudedach in das mit hellen Fliesen ausgelegte Foyer. Nach oben hin erstrecken sich vier Stockwerke, 71 Wohneinheiten. Neben der Treppe stehen Rollatoren bereit, auf einem klebt ein kleines Porsche-Logo.

Die Eingangshalle ist bereits für den alljährlichen Wintermarkt vorbereitet, der in wenigen Tagen stattfinden wird. Gleichmäßig verteilt stehen runde Tische, auf ihnen kleine Blumentöpfe und bedruckte Servietten: „Heute ist ein guter Tag, um einen guten Tag zu haben“.

Das betreute Seniorenwohnen des Vereins Ambet in der Braunschweiger Ilmenaustraße. Wenn man ganz still steht und horcht, hört man leise die vorbeirasenden Polizeiwagen. Die Weststadt – hier ist immer etwas los. Auch die SeniorInnen sind schon früh auf den Beinen. Die ersten tappen mit vollen Einkaufstüten beladen in den Fahrstuhl, der mit lautem Zischen in ihr Stockwerk zuckelt. Anders als im Pflegeheim leben die BewohnerInnen hier im betreuten Wohnen selbstständig in eigenen Wohnungen.

Noch ist es ruhig im Haus. Nichts deutet darauf hin, dass im Gemeinschaftsraum bereits fleißig gearbeitet und vorbereitet wird. Alle zwei Wochen findet das gemeinsame Mittagessen statt, das zu einer wichtigen Institution in der Einrichtung geworden ist. Etwa zwanzig der BewohnerInnen nehmen regelmäßig teil. Die verantwortliche Köchin ist die Bewohnerin Rosemarie Kopanski. Unterstützt wird sie von einer weiteren Bewohnerin und zwei Mitarbeiterinnen von Ambet.

    Old but Gold

    Das Medienalter in Deutschland lag 2023 bei 45 Jahren. Das klingt nur im ersten Moment unspektakulär. Konkret bedeutet das, dass die Hälfte der deutschen Bevölkerung heute älter als 45 ist. Zum Vergleich: In Angola lag das Medienalter im vergangenen Jahr bei 16,5 Jahren.

    Auch bei der Lebenserwartung ist ein konstanter Aufwärtstrend zu beobachten.

      Deutschland wird alt. Und älter. Und älter. Der demografische Wandel läuft auf Hochtouren. Kein Wunder: Während die Lebenserwartung steigt, sinken die Geburtenraten. In 30 Jahren wird gut ein Drittel der Bevölkerung älter als 65 sein.

      Die Folge: Mehr altersgerechter Wohnraum muss her. Ein Thema, das uns alle betrifft. Heute ist es vielleicht Oma, die die Treppen ihres eigenen Hauses nicht mehr laufen kann und altersgerecht untergebracht werden muss. In einigen Jahren sind es die eigenen Eltern. Und schließlich: wir selbst.

      Ein Gedanke, der Angst machen kann. Angst, die dazu führt, dass wir uns in jungen Jahren kaum mit dem Thema Wohnen im Alter auseinandersetzen – sowohl was unsere Angehörigen betrifft als auch uns selbst. Zeit, das zu ändern. Drei junge Menschen erzählen im Gespräch von ihren Gedanken und Sorgen in Bezug auf das Alter. Und: Was halten sie eigentlich vom betreuten Seniorenwohnen?

        Nicht nur zwei der befragten StundentInnen können sich das betreute Wohnen im Alter vorstellen. Der Trend zieht sich durch alle Altersgruppen. Auch der Verein Ambet hat den zunehmenden Wunsch nach betreutem Wohnen im Alter erkannt. Er betreibt neben der Wohnanlage in der Ilmenaustraße mittlerweile sieben weitere Einrichtungen in Braunschweig und der näheren Umgebung.

        Zahlen, bitte

        Die Alternative zum Pflegeheim lockt mit dem attraktiven Versprechen von Selbstständigkeit und Unabhängigkeit im Alter. Wie sieht es aber um die nüchternen Zahlen aus? Wie viel kostet die Miete im betreuten Seniorenwohnen?

        In der Ilmenausstraße werden Zwei-Zimmer-Wohnungen angeboten, die Größe variiert zwischen 45 und 55 Quadratmetern. Vermieter ist die Baugenossenschaft Wiederaufbau. Denn: Ambet bietet lediglich Service-Leistungen an, die Vermietung erfolgt durch den Kooperationspartner. Die Warmmiete beträgt 500 bis 600 Euro – zuzüglich Heiz- und Stromkosten.

        Dazu kommt außerdem die Service-Pauschale von Ambet in Höhe von 129 Euro. Diese finanziert das Beratungs- und Betreuungsangebot, unter anderem eine wöchentliche Sprechstunde und freiwillige Veranstaltungen wie das Mittagessen oder Bingo-Nachmittage.

        „Ich freue mich jeden Morgen darauf, aufzustehen“

        Zusätzlich gibt es Wahlleistungen im hauswirtschaftlichen Bereich, die alle BewohnerInnen freiwillig und kostenpflichtig buchen können. Eines dieser Angebote ist der Einkaufsdienst. Besonders wichtig ist diese Leistung für körperlich beeinträchtigte MieterInnen. Die Mitarbeiterin Tanja Lodyga gibt einen Einblick. Und berichtet von der Erfüllung, die sie in ihrem Beruf gefunden hat.

          Die Unzertrennlichen

          Viele BewohnerInnen des betreuten Seniorenwohnens lebten vorher in einem eigenen Haus. So auch Hannelore Kalitzki-Hobelmann. Nach dem Tod ihres Mannes und später ihres Hundes wurde das große Haus jedoch immer erdrückender für sie. Die Stille, die Einsamkeit – so konnte das nicht mehr weitergehen.

          Sie entschied sich für das betreute Seniorenwohnen in der Ilmenausstraße. Denn für sie war klar: „Im Heim hat man ja nur ein Zimmer, das wäre nichts für mich gewesen. Ich wollte weiterhin meine Möbel behalten und zumindest noch in einer eigenen Wohnung leben.“ In der Ilmenaustraße fand sie ein neues Zuhause. Und vor allem: eine beste Freundin. Zwei Frauen, die nichts mehr trennen kann, erzählen von ihrer Freundschaft.

          Zurück in die Zukunft

          Während das betreute Wohnen kontinuierlich an Beliebtheit gewinnt, wird das Pflegeheim immer unattraktiver für viele SeniorInnen. Das bestätigt auch Jonas Schwartze, bei der Nibelungen-Wohnbau-GmbH Braunschweig zuständig für den Bereich Innovation und Nachhaltigkeit: „Das Pflegeheim ist für viele Menschen mittlerweile ein rotes Tuch. Andere Konzepte dagegen werden stark nachgefragt.“

          Auch die Nibelungen Wohnbaugesellschaft betreibt als Vermieter Anlagen für das betreute Wohnen, in Lehndorf sogar in Kooperation mit Ambet.

          Für das Unternehmen ist klar: Barrierefreiheit wird für die Bedürfnisse moderner SeniorInnen schon bald nicht mehr ausreichen. Neben dem Aufbau neuer Wohnanlagen wird daher schon jetzt an zukunftsorientierten Test-Projekten gearbeitet. Mehr technische Assistenz, Sensoren und Automatisierung sollen her. Konkret könnte das bedeuten: Sprachassistenz in der gesamten Wohnung, die bei Stürzen sofort auf Hilferufe reagieren kann. Eine automatische Licht- und Heizungssteuerung, die besonders bei körperlichen Beeinträchtigungen entlastet. Oder auch Sensoren, die offen gelassene Fenster erkennen und so vergessliche SeniorInnen vor Einbrüchen schützen können. Die Zukunft des Wohnens ist smart – auch für SeniorInnen.

          Ein neues Zuhause

          Noch ist von all dieser Zukunftsmusik in der Ilmenaustraße nichts zu spüren. Noch ist hier weiter alles analog – von einigen wenigen technikaffinen SeniorInnen mit Tablets und Smartphones abgesehen. Wie die BewohnerInnen wohl in 20 Jahren in diesem Haus leben werden? Die meisten von ihnen werden dann aus der Babyboomer-Generation stammen. Ein Generationenwechsel steht an, mit welchem sich auch die Ansprüche ändern werden. Vielleicht werden, wie von Jonas Schwartze vorhergesagt, tatsächlich Automatisierung und Technik den Alltag vollständig durchdringen.

          Was hoffentlich weiter bestehen wird: Ein Ort, an dem sich Selbstständigkeit und Gemeinschaft nicht ausschließen. Ein Ort, an dem eine Freundschaft möglich ist, wie sie Hannelore Kalitzki-Hobelmann und Gudrun Mierswa gefunden haben. Und vor allem: Ein neues Zuhause, wenn das alte nicht mehr geeignet ist.

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