„Gott ist tot“ – mit dieser Aussage war Friedrich Nietzsche ein scharfer Philosoph seiner Zeit (1844-1900). Er bezweifelte nicht nur die Bedeutung von Gott in der modernen Welt, sondern auch, dass die Ideen des Christentums als Grundlage für moralische Werte und Handlungen dienen sollten. Der christliche Abschwung fand nach der Zeit der Aufklärung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nochmal sein Hoch. Die Entdeckung der Evolutionstheorie durch Charles Darwin im Zuge des wissenschaftlichen Fortschritts brachte neue philosophische Ansichten hervor, welche die traditionellen Vorstellungen von der Schöpfungsgeschichte und den Ursprung des Lebens in Frage stellte. Zudem entfremdeten sich zeitgleich die Menschen von der Tradition der religiösen Gemeinschaft durch die Industrialisierung, insbesondere die Menschen, die in die städtischen Industriezentren zogen.
Zu Lebzeiten erhielt Nietzsche kaum Anerkennung für seine Werke, da seine These vom ‘Tod Gottes’, auch wenn metaphorisch gemeint, anfänglich nur auf Missverständnis traf. Der überzeugte Atheist argumentierte, dass der Glaube an einen transzendenten Gott die menschliche Freiheit und Kreativität unterdrückt und ein Gefühl der Schuld und Unterwerfung erzeugt. In unseren Zeiten der Pride-Bewegung, des Genderns und des ewigwährenden Prozesses der Emanzipation gibt es immer mehr junge Menschen, die eine größere Autonomie in ihrem Glauben bevorzugen. Sie neigen dazu, ihre eigene Werte zu entwickeln. Heute entscheidet man sich eher, ein Freigeist zu sein, statt sich gehorsam von einer autoritären Kirche leiten zu lassen. Müssen wir eine neue Perspektive gewinnen auf das Christentum und uns lösen von den Gedanken der strengen Struktur? Kann man in einer Zeit, in der Unabhängigkeit und Selbstbestimmung dominieren, dennoch einen festen Halt im Glauben an Gott finden?
Im Gespräch mit einer Pfarrerin
Um diesem Phänomen näher auf den Grund zu gehen, wollte ich da anfangen, wo sich in der Regel Religiosität für das Leben festigt: bei der evangelischen Konfirmation oder der katholischen Kommunion. Es ist die eine und erste bewusste Entscheidung, die man als junger Mensch treffen kann, gezielt für ein Leben mit Gott. Wie auch die wissenschaftliche Untersuchung der Evangelischen Kirche in Deutschlands (EKD) bestätigt, festigt sich Religiosität hauptsächlich in der frühen Sozialisierung und nur sehr selten im Alter. Also habe ich mich mit der Pfarrerin Sonja Achak getroffen, um einen näheren Einblick zu bekommen, wie die Situation in meiner Heimatgemeinde Schladen ist.
Sonja Achak ist seit dem 1. Januar 2011 Pfarrerin in der Evangelischen Kirchengemeinde Schladen. In ihrem ersten Jahr startete sie mit 42 KonfirmandInnen. Das ist viel für unser nicht mal 4.000 EinwohnerInnen-Dorf. Doch sie erzählt mir, dass die Zahl in den folgenden Jahren immer weiter zurückgegangen ist: „In diesem Jahr werde ich nur noch 17 Jugendliche konfirmieren. Allerdings sind es im nächsten Jahr wiederum 26 Jugendliche. Man kann aber sagen, dass es grundlegend immer weniger werden“
Eine der Ursachen des kirchlichen Wandels, die sie beobachten kann, ist, dass die Menschen einfach wegsterben. Außerdem habe die Gesellschaft die Selbstverständlichkeit für Taufe, Konfirmation oder auch kirchliche Heirat verloren. Eigentlich wichtige Punkte im Leben. Bei einem Punkt allerdings, und zwar dem Ende des Lebens, suchen die Menschen immer noch etwas Göttliches. Etwas, das alle verbindet und auch in unserem Innern tief verankert ist.
„Bei Beerdigungen finde ich es manchmal spannend, dass Menschen, die lange nichts mit der Kirche zu tun hatten, plötzlich eine kirchliche Beerdigung wünschen. Bestatter fragen mich dann, ob ich die Beerdigung übernehme, obwohl die Verstorbenen nicht mehr Mitglieder der Kirche waren. Offensichtlich wird uns als Kirche eine große Kompetenz bei Beerdigungen zugesprochen.“ Es sind die essenziellen Dinge im Leben, denen die Kirche eine Antwort bietet, einen Platz, der immer präsent sein soll. Dieses Gefühl der Geborgenheit versucht Sonja Achak ihren Konfirmanden zu vermitteln: „Wenn es mir gelingt, den Jugendlichen das Gefühl zu vermitteln, dass sie in der Kirche einen Platz haben, dass sie Gemeinschaft erleben und angenommen werden, dass Gott sie liebt und akzeptiert, dann haben wir viel erreicht.“
Doch die Prognosen bleiben düster…
Laut einer Studie der Freiburger WissenschaftlerInnen wird die evangelische Kirche in Deutschland bis 2060 rund die Hälfte ihrer Mitglieder verlieren. Die Zahl der Mitglieder würde demnach von 21,5 Millionen im Jahr 2017 auf 10,5 Millionen im Jahr 2060 sinken. Gleichzeitig sind die Kirchenaustritte sowohl bei der katholischen als auch der evangelischen Kirche seit der Corona-Krise drastisch gestiegen. Dennoch zeigt die aktuelle Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), dass KatholikInnen, ProtestantInnen und Konfessionslose in Deutschland ungefähr gleich stark vertreten sind.
Ist die Kirche tot?
“Die Kirche gibt es seit 2000 Jahren, sie wird den Weg schon finden. Um da fromm zu sprechen: Solange der Herr dabei ist, wird die Kirche schon ihren Weg finden. Aber sie wird sich verändern. Und das ganz, ganz deutlich. Also ich glaube, das, was Sie noch als Kirchengemeinde kennengelernt haben, als Sie Konfirmandin waren, das wird es in ein paar Jahren nicht mehr geben. Das gibt es ja schon jetzt nicht mehr.“
Ich stimme Frau Achak zu, damals gab es noch jedes Wochenende einen Gottesdienst in Schladen. „Als ich 2011 hier angefangen habe, war ich nur für Schladen zuständig. Aufgrund der sinkenden Mitgliederzahlen und der größeren Einzugsgebiete sowie des Mangels an Pfarrerinnen und Pfarrern werden jedoch immer mehr Gemeinden und Gebiete zusammengelegt. Mittlerweile betreue ich auch Wehre und Beuchte. Das funktioniert nur noch in Zusammenarbeit.“ Jetzt gebe es dementsprechend nur noch jeden dritten Sonntag einen Gottesdienst im eigenen Dorf.
Auf meine Frage, die mir sofort dazu einfällt, nämlich wie die Kirche denn auf diesen enormen Umschwung reagiert, antwortet sie wie folgt: „Um diesem Wandel zu begegnen, haben wir einmal im Monat einen „Good Time“-Gottesdienst mit Musik speziell für junge Menschen. Zudem gibt es ein Projekt mit dem Café-Bus, der auf dem Rewe-Parkplatz im Dorf steht, der das Gemeinschaftsgefühl der Kirche direkt zu den Menschen bringen soll. Ich denke, wenn man nur die traditionellen Sonntagsgottesdienste anbieten würde, würde man viele Menschen nicht mehr erreichen. Jede Art von Gottesdienst spricht unterschiedliche Menschen an, und die Kirche reagiert darauf.“
Ist ein frommer und zugleich ein moderner Weg kombinierbar?
Das, wofür Nietzsche damals noch schief angeguckt und belächelt wurde, ist heute die Grundlage für eine spannende Beobachtung: es gibt eine neue Generation, die die Selbstverständlichkeit von kirchlicher Bindung verloren hat. Ist das etwa auch eine junge Generation, die Sex vor Ehe ohne schlechtes Gewissen haben kann? „Als ich studiert habe und auf Studentenpartys ins Gespräch kam, fragten die Leute oft, was ich studiere. Wenn ich sagte, dass ich Theologie studiere, kam sofort die Annahme: „Du studierst Theologie? Dann hast du keinen Sex vor der Ehe.“ Das fragt man doch sonst niemanden! Aber ich finde, dass das gar nicht mehr das Thema unserer Kirche ist. Wir werden oft moralisch eingeordnet, obwohl wir in vielen Bereichen gar nicht mehr so sind.“
Ist die Kirche denn grundsätzlich sehr streng, so dass sie oft in Konflikt mit modernen Bewegungen steht? “Mittlerweile gibt es verheiratete lesbische Pfarrerinnen und schwule Pfarrer, die gemeinsam mit ihren PartnerInnen im Pfarrhaus wohnen. Das Thema “Kein Sex vor der Ehe” und die Körperfeindlichkeit, die der Kirche oft vorgeworfen wird, mag es noch geben, aber das ist nicht der Standard unserer Kirche.” Unsere Generation Z steht für Selbstbestimmung und Unabhängigkeit. Solch ein Lifestyle kann kollidieren mit religiösen Traditionen sowie Überzeugungen. Kann man da überhaupt einen frommen Weg finden? „Ich glaube wir dürfen Glauben und Frömmigkeit nicht verwechseln, und ich glaube, die Frömmigkeit von Menschen unterscheidet sich. Ich glaube, wir sind viel besser als unser Ruf.“
Stimmt, denn Religionen bringen auch viel mehr mit als nur veraltete Wertvorstellungen und langweilige Gottesdienste. Gottesglaube steht im Evangelium im Kern eng verbunden mit Liebe und Gemeinschaft. Werte, nach denen sich kollektiv gesehnt wird: „Ich glaube, dass junge Menschen mit ihren Werten in der Kirche ihren Platz finden können. Allerdings will ich nicht bestreiten, dass es sicherlich auch Gemeinden gibt, die sehr fromm sind. Es ist schwierig, das pauschal zu sagen. Es gibt natürlich Freikirchen zum Beispiel, die noch sehr moralisch sind und beispielsweise darauf bestehen, dass „die Frau zu schweigen hat“, weil es so in der Bibel steht.“
Kann man dann Gottesglaube und Religion überhaupt gleichsetzen? „Ich glaube, dass Glauben etwas ist, das man erfahren oder fühlen muss. Wenn man etwas fühlt, sich aber nicht damit identifizieren kann, etwa weil man in einer sehr frommen Gemeinde lebt, ist das schade. Ich habe dazu meine eigene Theorie: Junge Menschen haben oft göttliche Berührungen oder spirituelle Erlebnisse, die sie spüren. Doch sie folgen diesen Gefühlen vielleicht nicht weiter, weil sie Vorurteile haben. Sie denken, die Kirche sei zu moralisch oder sie selbst seien nicht fromm genug. Diese Vorurteile und Zweifel hindern sie daran, ihrem Glauben nachzugehen.“
Sonja Achak gibt mir das Gefühl, als sei die Kirche gegenüber den modernen Werten eher offen und sozusagen angepasst an den Wandel. Für sie ist der Glaube nichts Statisches, sondern etwas Dynamisches, das sich im Einklang mit ihren Lebenserfahrungen und Überzeugungen entwickelt. Während die Kirche früher deutlich einheitlicher war, ist sie heute vielfältiger und bunter. Wie die Pfarrerin hoffnungsvoll betont, gibt es auch die ein oder anderen Jüngeren, die sich engagieren und sich aktiv für die Kirche interessieren.
Aussterben wird die Kirche wohl erstmal nicht, auch wenn sie Mitglieder verliert. Die Offenheit des Gespräches hat mir auch verdeutlicht, dass man sich ruhig trauen kann, in Gott einen Weg zu suchen – trotz moderner Lebensweise. Das Konzept der Unterwerfung und der Schuldgefühle laut Nietzsche konnte ich in meiner Gemeinde nicht wiederfinden. Man kann auch aktiv selbstbestimmt leben und trotzdem einen Halt in der kirchlichen Gemeinschaft finden. Es sind bestimmt noch viele Vorurteile in uns, die aufgrund der kirchlichen Geschichte in uns stecken. Wir verlieren nicht den Glauben, wir glauben nur anders. Der Mensch muss nicht einem frommen Ideal entsprechen, um Akzeptanz in der Kirchengemeinde zu erfahren.
Gott ist nicht tot.
Kritik an religiösen Strukturen, gerade im deutschsprachigen Raum gegenüber dem Christentum, gab es schon zu Zeiten, als es noch undenkbar war, nicht gläubig zu sein. Nietzsches dramatischer Satz sollte die schockierende Bedeutung seiner Offenbarung zum Ausdruck bringen und beeinflusst uns dadurch bis heute. Wir befinden uns zwar im Wandel, aber ein Halt durch den Glauben ist für die Menschheit immer noch essenziell. Die Autorität der Kirche bezüglich unseres Wertesystems nimmt nur ab, und die Menschen glauben moderner. Ich bin gespannt, wohin sich dieses Phänomen weiterentwickeln wird. Nietzsche würde sich dennoch bestimmt freuen, dass seine Vermutung Form angenommen hat, auch wenn sie (noch) nicht der absoluten Realität entspricht.