„Mindestens haltbar bis“ oder „tödlich ab“?

Die Politik setzt bei der Lebensmittelverschwendung auf die Selbstverpflichtung der Lebensmittelmärkte. Doch ob diese Strategie im Sinne der Abfallreduzierung zielführend ist, bleibt fraglich.

In der Dämmerung nach Ladenschluss: Ausgestattet mit Handschuhen und Taschenlampe werden die Container des Supermarktes nach essbaren Lebensmitteln durchsucht. Durch die ständige Gefahr erwischt und bestraft zu werden, steigen Aufregung und Nervenkitzel ins Unermessliche, berichtet Maren Hain. Die Sozialarbeiterin hat in der Vergangenheit schon oft ganze Mahlzeiten containert, um Lebensmittel zu retten. In Braunschweig sei das Containern allerdings inzwischen kein großes Thema mehr, da viele Betriebe ihre Waren freiwillig an Organisationen wie foodsharing abgeben würden.
Im Interview spricht Maren über die Arbeit von foodsharing:

 

Organisationen wie foodsharing sorgen dafür, dass aussortierte Waren dem Lebensmittelkreislauf erhalten bleiben und leisten somit einen wesentlichen Beitrag zur Lebensmittelrettung.

Wie geht die Politik gegen die Lebensmittelabfälle vor?

Das Ausmaß der Verschwendung verdeutlichen die Daten der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO). Demnach landen jedes Jahr so viele Lebensmittel in der Tonne, wie im Vergleich dazu von Januar bis März produziert werden. Die Abfälle fallen hierbei entlang der gesamten Wertschöpfungskette an: angefangen von der Produktion über die Verarbeitung und den Verkauf bis hin zu den Privathaushalten. Für eine langfristige Reduzierung der Lebensmittelverschwendung müssten alle Glieder dieser Kette mehr tun. Die Abfallrahmenrichtlinie der EU sieht bislang allerdings nur auf der Einzelhandels- und Verbraucherebene eine Reduzierung der Lebensmittelverschwendung vor. Gefordert werden 30 Prozent bis 2025 und eine Halbierung bis 2030. Derzeit setzt die Politik vor allem auf freiwillige Vereinbarungen zur Abfallreduzierung. Das sorgt für Probleme, besonders im Einzelhandel.
Kilian Richter hat eine Ausbildung zum Einzelhandelskaufmann bei Lidl absolviert. Für den 21-Jährigen seien die Zielsetzungen aus der EU zwar grundsätzlich realistisch, auf freiwilliger Basis jedoch nicht zu erreichen. Dies würde schlichtweg zu viel Zeit beanspruchen, die nicht zur Verfügung steht. Innerhalb der Freiwilligkeit stehen letzten Endes der Wettbewerb und die Konkurrenz im Konflikt mit den EU-Zielen. So wird im Sinne des Konkurrenzgedankens stets darauf geachtet, alle Waren zu jeder Tages- und Jahreszeit anbieten zu können. Laut Richter seien die Auswüchse des Wettbewerbs zum Beispiel auch daran zu erkennen, dass das Weihnachtsgeschäft jedes Jahr früher zu starten scheint.
Das Ziel der Abfallreduzierung kollidiert demnach mit dem Anspruch der Warenverfügbarkeit bis Ladenschluss. Hier sieht Richter die VerbraucherInnen in der Verantwortung. Schließlich sei der „Einzelhandel eine Dienstleistung, ein Konzept, das dahingehend funktioniert, dass eben der Kunde entscheidet, was im Regal steht“. So müsse das Bewusstsein, dass die KundInnen am meisten Macht haben, gestärkt werden. Laut einer Umfrage des Verbraucherzentrale Bundesverbands aus dem Jahr 2022 sparen fast zwei Drittel der VerbraucherInnen beim Einkauf von Lebensmitteln aufgrund von Krisen wie Corona, Krieg und Inflation. Rund 61 Prozent greifen auf günstigere Lebensmittel zurück.
Insgesamt müssten laut Richter „Konkurrenten wie Aldi und Lidl, aber auch Edeka und Rewe, letztlich an einem Strang ziehen“, um die EU-Ziele zu erreichen. Das heißt: nur durch gesetzliche Regelungen könne hier Einheitlichkeit geschaffen werden. Es brauche solche Verpflichtungen mit entsprechenden Kontrollen und Sanktionen, um das Wegschmeißen von Lebensmitteln zu verhindern. Zudem sollte das Mindesthaltbarkeitsdatum durch ein Verbrauchsdatum ersetzt werden, und auch der CO2-Fußabdruck müsste sich im Preis widerspiegeln.  Die „tödlich ab-Mentalität“ müsse aus den Köpfen der VerbraucherInnen verschwinden. Letzten Endes sei das Einkaufsverhalten des Einzelnen, nur über die Preise zu steuern.
Dass sich die Lebensmittelrettung auch für den Einzelhandel lohnen kann, zeigt die Kooperation mit der Tafel. Richter beschreibt zwei Vorteile: die Kostenersparnis durch die Abholung der aussortierten Ware von der Tafel, und die Imageverbesserung durch die Kooperation und Lebensmittelrettung. Auch die Unternehmenssprecherin von EDEKA Minden-Hannover (Name?) betont das „wirtschaftliche Verlustgeschäft“ durch die Lebensmittelabfälle und die Relevanz der Zusammenarbeit mit den Tafeln. Inmitten des Spannungsfeldes der Abfallreduzierung sind die Tafeln aufgrund von Inflation, Pandemie und Krieg in der Ukraine mehr denn je auf die Abgaben angewiesen. So berichtet der Vorsitzende des Dachverbands Tafel Deutschland, Jochen Brühl, von einem Anstieg um rund 50 Prozent an Bedürftigen seit Anfang 2022.
Im Interview berichtet Vorstandsmitglied Christa Diestel über die Arbeit der Tafel in Braunschweig:

Karin Logemann, Abgeordnete für Ernährung, Landwirtschaft, Verbraucherschutz und Landentwicklung der SPD-Landtagsfraktion in Niedersachsen, meint, es sei „gut, dass wir die Tafeln und Ausgabestellen haben und schlimm, dass wir sie haben müssen“. Aufgrund der momentanen Wirtschaftslage würden die Tafeln eine wichtige Versorgerrolle übernehmen, die die ursprüngliche Idee der Lebensmittelrettung ausweitet. Auch Steffen Mallast, Referent für Agrarpolitik und Verbraucherschutz der Grünen-Landtagsfraktion in Niedersachsen, vertritt die Ansicht, dass die Tafeln „kein Instrument der Sozialpolitik“ sein sollten. In seiner Idealvorstellung könnten sich die Bedürftigen durch die staatliche Unterstützung selbst mit Lebensmitteln versorgen, und die Lebensmittelabfälle würden nicht in dem Ausmaß anfallen, dass die Tafeln zum Tragen kommen. Beide Parteien sprechen von einer logistischen Neukoordinierung der Tafeln. Die geplanten Verteilzentren sollten neue Warenströme erschließen, um die Versorgung der Bedürftigen sicherzustellen.

Kann Selbstverpflichtung funktionieren?

Mallast (Die Grünen) kritisiert, dass unter der schwarz-roten Koalition zwar Ziele, aber keine Maßnahmen formuliert worden sind, um diese zu erreichen. Das Problem sieht er in den beschränkten Kontrollfunktionen der freiwilligen Selbstverpflichtung und den fehlenden Nachsteuerungsmöglichkeiten, wenn festgestellt wird, dass Maßnahmen nicht den erwünschten Beitrag zur Zielerreichung leisten. Insgesamt ähneln die Forderungen, die den Grünen in Gesprächen mit MarktbetreiberInnen entgegengebracht worden sind, den Ansprüchen Kilian Richters. So sei laut Mallast die lange Zeit der Marktliberalisierung vorbei, und MitbewerberInnen wünschten sich mehr staatliche Markteingriffe in Form von einheitlichen Regelungen und Schranken. Somit würde der Staat einen Rahmen vorgeben, in dem Wettbewerb stattfinden kann.
Karin Logemann (SPD) steht Markteingriffen kritisch gegenüber. Dennoch befürwortet sie klare (Scham-)Grenzen für die qualitativ hochwertigen Lebensmittel in Deutschland. Aufgrund des starken Lobbyismus innerhalb der Agrar- und Ernährungsbranche ist eine unabhängige Prüfstelle zur Zielerreichung für sie unerlässlich. Eine Insellösung für Deutschland sei jedoch nicht zielführend. Da die deutschen ProduzentInnen sich auch mit ausländischen Unternehmen im Wettbewerb befinden würden, müssten gemeinsame Verabredungen auf EU-Ebene getroffen werden. Sie betont den Einfluss der Lobby von KonsumentInnen, da diese „durch ihr Verhalten entscheiden, was auf dem Markt angeboten wird“. Gemessen am Pro-Kopf-Einkommen wird in Deutschland laut Mallast sehr wenig in Lebensmittel investiert. Im Sinne der Abfallreduzierung müssten die Lebensmittel dem Abgeordneten zufolge teurer werden, um einen höheren Stellenwert zu bekommen und um die Billig-Mentalität zu verdrängen.
Wiebke Elbe, Pressesprecherin für Ernährung, Landwirtschaft und Bergbau der Umweltschutzorganisation WWF, kritisiert, dass den Forderungen nach einem Gesetzesrahmen des Bundesrates aus dem Jahr 2021 und der nationalen Strategie des Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft aus dem Jahr 2019 bislang nicht nachgekommen worden ist. Allein durch die gesetzlich verankerte Pflicht und dem Reduktionsziel mit entsprechenden Messindikatoren erhöhe sich die Bereitschaft innerhalb der Wertschöpfungskette zum Umdenken und zur aktiven Mitarbeit an der Zielerreichung.
Im November 2022 hat die Weltbevölkerung laut den Vereinten Nationen (UN) erstmals die Acht-Milliardenmarke erreicht. Schätzungen der UN zufolge steigt die Zahl bis 2037 auf neun Milliarden Menschen. In einer wachsenden Weltbevölkerung sei es laut Elbe ein Unding, Lebensmittel entlang der Wertschöpfungskette und damit Anbauflächen zu verlieren, die woanders fehlen würden. Sie betont, dass bei EU-Richtlinien wie der Abfallrahmenrichtlinie Geldstrafen drohen, wenn Zielmarken wiederholt nicht erreicht werden. Dadurch erhöhe sich der Druck, die einzelnen Wirtschaftsbereiche zu zwingen, die Lebensmittelverschwendung zu reduzieren. Hinsichtlich der geringen Zeit, die zum Erreichen der EU-Ziele verbleibt, hält Wiebke Elbe fest: „Entweder die Bundesregierung wartet, bis sie zum Jagen getragen wird, oder sie fängt selbst an zu jagen“.

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