Einmal Hauptschule, immer Hauptschule?

Das deutsche Schulsystem ist übersät mit Bildungsungleichheiten. Noch immer entscheidet die soziale Herkunft maßgeblich über die Schullaufbahn von Kindern und Jugendlichen. Wie es dazu kommt, was man dagegen tun kann und was das Gymnasium damit zu tun hat.

„Du bist Hauptschüler und du bleibst Hauptschüler!“ Dieser Satz hat sich wohl in den Köpfen so einiger Schüler*innen eingebrannt. Das tragische daran: In vielen Fällen behält er Recht. Dabei sagt er so einiges darüber aus, was in deutschen Schulen schiefläuft. Im deutschen Bildungssystem gibt es eine Abstiegsmobilität, aber kaum eine Abstiegsmobilität. 

Das müssen Sophia und Emilia (Namen zur Wahrung der Anonymität geändert) am eigenen Leib erfahren. Die beiden sind Zwillinge und gehen in die vierte Klasse. Sie könnten gute Schülerinnen sein. Sind sozial. Hilfsbereit. Setzen sich für andere ein. Ihre Eltern haben einen sozial schwachen Hintergrund. Aufgrund dauerhafter Umzüge ist die jetzige Grundschule ihre sechste innerhalb von drei Jahren. Am Ende der vierten Klasse bekommt Sophia eine Empfehlung für die Realschule, Emilia geht auf die Hauptschule. Sie hätte auch auf die Realschule kommen können, aufgrund einer Lernschwäche jedoch als Inklusionsschülerin, berichtet ihre Klassenlehrerin. Da sei die Hauptschule einfach „praktischer“ gewesen, zumal ihre ältere Schwester diese auch besuche. „Ich kann nur hoffen, dass sie sich freistrampeln“, sagt die Lehrerin am Ende des Gesprächs.

Sophia und Emilia sind eines von vielen Beispielen für Bildungsungleichheiten in Deutschland. Wie entstehen diese und wie kann man sie bekämpfen?
Ein kurzer Rückblick ins Jahr 2001. Ein Jahr mit großen Schlagzeilen. Deutschland diskutierte über die Einführung der Riester-Rente, die Vertrauensfrage von Gerhard Schröder und: die Ergebnisse der ersten PISA-Studie. Die Veröffentlichung der internationalen Vergleichsstudie löste damals eine nationale Debatte über das deutsche Bildungssystem aus. „PISA-Schock“ titelten viele Zeitungen. Denn die Studie bescheinigte – entgegen der vorherrschenden öffentlichen Wahrnehmung – unterdurchschnittliche Leistungen der deutschen Schüler*innen. Was außerdem erschreckte: ein starker Zusammenhang der schulischen Leistungen sowohl mit dem sozioökonomischen Hintergrund als auch mit dem Migrationshintergrund. 

Seitdem hat sich zwar einiges getan – etwa durch höhere Bildungsausgaben, verbesserte Zugänge zu frühkindlicher Bildung und stärkere Förderung sozial benachteiligter Kinder. Dadurch ist es gelungen, die Leistungen der deutschen Schüler*innen über den OECD-Schnitt zu heben. Der Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Kompetenzbildung ist dennoch überdurchschnittlich hoch. Nach wie vor.
Ungleichheitsforscher Markus Lörz begründet diesen starken Zusammenhang unter anderem mit der frühen Aufteilung der Grundschüler*innen nach der vierten Klasse. Das große Problem an dieser Aufteilung sei die soziale Selektion, die dabei stattfinde. Das bedeutet: Kinder aus sozial schwachen Haushalten haben geringere Chancen, beispielsweise das Gymnasium zu besuchen. 
Kinder aus privilegierten Familien dagegen weisen im Schnitt bessere Leistungen auf, erklärt seine Kollegin Anna Bachsleitner. Aber auch bei gleichen Leistungen besuchen sie häufiger das Gymnasium, denn die soziale Herkunft wirke sich auf die Entscheidungen der Eltern aus. 

Übrigens: Die Empfehlung über die weiterführende Schulform hat in Niedersachsen und den meisten anderen Bundesländern keine bindende Wirkung. Ultimativ wird die Entscheidung also zuhause getroffen. Und dort fällt eben auf: Eltern aus höheren Schichten schicken ihre Kinder häufiger aufs Gymnasium. Auch entgegen der Empfehlung der Lehrkraft. Und nicht nur das. Es ist sogar erwiesen, dass es Schüler*innen gibt, die aufgrund ihrer sozialen Herkunft schlechter bewertet werden. Das kann sich ebenfalls auf die Schulempfehlung auswirken. Und genau an solchen Stellen entstehen Bildungsungleichheiten. 

Was ist also die Lösung? Wie kann dieses System gerechter werden? Erziehungswissenschaftler Marius Harring plädiert dafür, die Kinder und Jugendlichen so lange wie möglich gemeinsam zu beschulen. Die Entscheidung, welcher Abschluss letzten Endes erlangt wird, solle so spät wie möglich erfolgen, um die Möglichkeiten der Schüler*innen bis zum Ende ihrer Schullaufbahn offenzuhalten. Diesen Weg könne man sehr gut über Gesamtschulen gehen. Genau das sei auch die Idee hinter dieser Schulform: möglichst lange gemeinsames Lernen ermöglichen. Und das Gymnasium? Bräuchte man dann gar nicht mehr unbedingt. Darauf sollte in diesem Modell sogar bewusst verzichtet werden, so Harring. Denn sonst laufe man Gefahr, eine Zweiklassengesellschaft zu erschaffen. Leistungsstarke Schüler*innen auf dem Gymnasium, leistungsschwache Schüler*innen auf der Gesamtschule. Kaum soziale Durchmischung. Kaum soziale Durchmischung. Das ist auch ein Argument des Comedians Felix Lobrecht, unter anderem bekannt für den Nr.1-Podcast Gemischtes Hack, den er zusammen mit Tommi Schmitt betreibt. Darin äußerte er sich ebenfalls zur Debatte über das deutsche Schulsystem. Lobrecht hat eine ganz klare Meinung zum Thema:

„Gymnasien abschaffen! Es gibt keinen Grund dafür, warum es Gymnasien gibt. Gymnasien dienen einzig und allein der Abgrenzung nach unten. […] Unter anderem durch Gymnasien wird auch Klassismus oder soziale Herkunft auch weiterhin ein wenig in der Öffentlichkeit beachtetes Thema bleiben, weil es durch Gymnasien keinen Austausch zwischen den Schichten gibt, weil die meisten Leute an Gymnasien einfach aus der Mittelschicht aufwärts kommen und die meisten aus der Mittelschicht abwärts […] finden da nicht statt oder deutlich weniger statt.“

„Natürlich tragen Gymnasien irgendwo zur Reproduktion von sozialen Ungleichheiten bei“, antwortet Markus Lörz auf die Aussage des Podcasters. „Aber es ist vielmehr der sozial selektive Zugang zu den Gymnasien als das Gymnasium selbst.“ Verschiedene Schulformen bedeuteten eben verschiedene Entwicklungsmilieus. Und da finde mit der Schulwahl nach der vierten Klasse schon eine bedeutende Weichenstellung statt. Je nachdem, welchen Bildungsabschluss man dann erreicht, könne auch der Lebensweg stark beeinflusst werden. Der Abschluss bedinge nämlich das spätere Einkommen, den Lebensstandard, aber auch die Gesundheit und die Lebenszufriedenheit der Menschen, erklärt Bachsleitner. Was kann man also dagegen machen?

Ein möglicher Schritt sei, den Zeitpunkt der Aufteilung nach hinten zu verschieben, empfiehlt Lörz. Denn gerade im Kindesalter seien die Bildungsentscheidungen stark von der sozialen Herkunft der Eltern beeinflusst. Zu einem späteren Zeitpunkt wäre die entscheidende Rolle der Eltern nicht so stark und die sozial selektive Wirkung etwas gemindert.

Außerdem hätten die Kinder dann mehr Zeit sich zu entwickeln, erklärt Axel Plünnecke, Bildungsökonom am arbeitgebernahen Institut der deutschen Wirtschaft. Eine spätere Trennung könnte nicht nur der sozialen Selektion entgegenwirken, sondern auch einem anderen Effekt. Plünnecke vergleicht ihn mit einem Beispiel aus der Sportwelt:  Bei einem Blick auf die Geburtsdaten der Jugend-Nationalmannschaften stelle man fest, dass viele Spieler*innen in den ersten Monaten des entsprechenden Jahres geboren wurden. Und vergleichsweise wenig in den letzten Monaten. Wieso? Fast ein Jahr älter bedeute eben auch fast ein Jahr weiter. Im Sport wie auch in der Schule. Gerade im jungen Altern nicht unerheblich. Nach der Grundschule seien so beispielsweise die 11-jährigen Kinder kognitiv weiter als die 10-Jährigen. Zumindest im Durchschnitt. Dadurch bekämen die älteren Schüler*innen sogar häufiger eine Gymnasialempfehlung. 

Oder sollte man lieber doch gänzlich auf das Gymnasium verzichten? Die Frage, wenn man diesen Weg ginge: Was ist die Alternative? „Gesamtschulen“ wäre vermutlich die häufigste Antwort. Davon ist ja auch Marius Harring überzeugt. Nun gut. Gesamtschulen gibt es schon einige in Deutschland. Oder andere Schulen, die alle Abschlüsse zusammenfassen, zum Beispiel die Hamburger Stadtteilschule. 

Plünnecke ist sich sicher, dass Gesamtschulen allein nicht die Lösung wären. Höchstens in Kombination mit Gymnasien sieht er eine gute Möglichkeit. Denkbar sei für ihn eine Mischung aus G8 am Gymnasium und G9 an der Gesamtschule. Um Kindern die Zeit zu geben, die sie gegebenenfalls bräuchten, sich zu entwickeln. Aber das Gymnasium abschaffen – für ihn keine gute Option. 

Erstens funktioniere es schlicht und einfach zu gut. Soll heißen: von den Ergebnissen her. Außerdem trügen Politik und Gesellschaft das Gymnasium zu sehr, als dass man es einfach abschaffen könne. Und zweitens erwartet der Bildungsökonom dann einen Effekt, wie beispielsweise in den USA. Dort gibt es das High School-System. Eine Schule für alle. Also schon mal keine soziale Selektion über den Zugang, denn es müssen ja alle Schüler*innen auf die High School. „Da findet soziale Selektion nicht über die Empfehlung nach der vierten Schulklasse statt, sondern über die Finanzmöglichkeiten der Eltern“, so Plünnecke. Was er damit meint: Die Wahl des Stadtteiles, in den Familien ziehen, werde maßgeblich durch die finanziellen Möglichkeiten beeinflusst. Dadurch entstehen Unterschiede zwischen Schulen in sozial schwächeren und Schulen in sozial stärkeren Stadtteilen. 

Harring ist dennoch der Meinung, dass man das Gymnasium abschaffen kann und sollte. Auch wenn man sich damit gewisse Selektionseffekte einkauft. „Langfristig gesehen glaube ich, dass das der richtige Weg wäre. […] Aus meiner Perspektive kann das kein Grund sein, diesen Weg nicht zu gehen und es nicht auszuprobieren“, so Harring. Außerdem gebe es Positivbeispiele, die zeigen, wie es geht. Skandinavische Länder zum Beispiel. Dort zeigen sich nur geringe Selektionseffekte. Doch der Erziehungswissenschaftler sieht ebenfalls politische Hürden, spricht bewusst von einer Utopie.

Eine Utopie, die Sophia und Emilia möglicherweise die Chance gegeben hätte, sich unabhängig von ihrer sozialen Herkunft zu entwickeln. Eine Utopie, die das Potenzial hat, Bildungsungleichheiten bedeutend zu verringern. Eine Utopie, die den Satz „Du bist Hauptschüler und du bleibst Hauptschüler“ ausmerzen würde.

Es bleibt nur zu hoffen, dass die Politik das auch bald erkennt. Damit diese Utopie Wirklichkeit werden kann. Und damit das System Schule in Deutschland endlich gerecht wird.

*Namen zur Wahrung der Anonymität geändert.

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